Sylt. Auf der Insel wirkt Corona wie ein Brennglas, das Probleme an die Oberfläche bringt. Über Lösungen herrscht nicht immer Einigkeit.
Derzeit ist es auf Sylt noch ruhiger als sonst im Januar. Der Grund: Corona-Lockdown Teil zwei. Nach dem Beherbergungsverbot im Frühjahr 2020 und dem Gästeansturm danach im Sommer musste der Betrieb in den Wochen um den Jahreswechsel erneut heruntergefahren werden. Bis spätestens zum 5. November mussten alle Gäste, die kein Eigentum auf Sylt haben, abreisen. Erst frühestens ab Mitte Februar könnten Urlaube auf Sylt nach derzeitigem Stand wieder möglich sein.
Corona hat auf Sylt wie eine Art Brennglas fungiert
Doch ruhig ist es nur, was die Touristenmassen angeht, nicht was die Stimmung auf der Insel betrifft. Die Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 hat trotz der wirtschaftlich schwierigen Situation vielen Syltern die Schönheiten ihrer Insel wieder ins Bewusstsein gerufen. Sylt war auf einmal nur Heimatinsel und nicht die beliebte Urlaubsdestination.
Das Hochfahren des Tourismus von Null auf Hundert danach hat bei vielen Syltern ein Gefühl an die Oberfläche gebracht, das schon lange im Inneren gärte. Es ist zuviel: zu viele Hotels, zu viele Autos, zu viel Fremdbestimmtheit. Corona hat wie eine Art Brennglas fungiert.
Umfrage unter Einwohnern: 99 Prozent finden die Straßen zu voll
Die Keitumerin Birte Wieda beobachtet seit langem die Entwicklung, die ihr nicht gefällt. Und sie ist damit nicht alleine. Gemeinsam mit Mitstreitern hat sie im vergangenen Jahr das Bürgernetzwerk „Merret reicht's“ gegründet. Sie wollen sich für eine Insel einsetzen, die auch für ihre Bewohner lebenswert ist. Ein besonderer Dorn im Auge sind ihr Menschen, die Sylt nur als Wirtschafts- und nicht als Lebensraum betrachteten.
Einer Insulanerbefragung von Sylt Marketing GmbH zufolge empfanden 65 Prozent der Befragten unter dem Eindruck des ersten Lockdowns und der anschließenden Saison das Tourismusaufkommen als zu hoch. 99 Prozent der Befragten finden die Straßen der Insel zu voll, davon 22 Prozent ganzjährig und 77 Prozent in der Saison.
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Viele Sylter wollen mehr gesamtinsulares Denken
Und die klare Mehrheit der Befragten geht von einem deutlichen Zuwachs der jährlichen Übernachtungen aus. Die tatsächliche Steigerung des Übernachtungsaufkommens in den vergangenen zehn Jahren lag indes bei 2,9 Prozent. Wieda und ihre Mitstreiter kritisieren, dass belastbare Zahlen in mehreren Bereichen fehlen: „Sylt hat keine Zahlen zur tatsächlichen Kapazität von Dauerwohnraum, Zweitwohnungen und Ferienwohnungszuwachs oder -verlust.“ Nicht in den Einzelgemeinden und schon gar nicht für die ganze Insel.
Die Goldschmiedin Wieda und viele andere Sylter, so wird auch in der Befragung der Einheimischen und Interviews mit Entscheidern deutlich, wollen mehr gesamtinsulares Denken. Jede der fünf Gemeinden schaue nur auf sich und ihr Wohl, findet Wieda. Immer wenn es um Insulares geht, gebe es Streit, Gezeter und Verzögerung.
Angespannte Stimmung zwischen Gemeinde Sylt und anderen Inselorten
Außenstehende mag das verwundern. Denn die meisten Nicht-Insulaner nehmen die Insel als eine Einheit wahr. Aber das ist Sylt nicht. Auf der Insel gibt es fünf Gemeinden - mit durchaus unterschiedlichen Zielen und Interessen. Die größte ist die Gemeinde Sylt mit den Ortsteilen Westerland, Archsum, Keitum, Morsum, Munkmarsch, Rantum und Tinnum. Daneben gibt es noch die Gemeinden List, Kampen, Wenningstedt-Braderup und Hörnum.
Die Stimmung zwischen der Gemeinde Sylt und den anderen Inselorten hat sich in den vergangenen Monaten eher angespannt als verbessert. Das zeigt auch der Streit um den „raumordnerischen Vertrag“, kurz ROV. Dieser wurde Mitte Dezember zwischen den Amtsgemeinden und dem Land Schleswig-Holstein geschlossen. Die Gemeinde Sylt hingegen will sich dem nicht anschließen und hat Klage am Verwaltungsgericht in Schleswig eingereicht.
Verwaltungsgericht hat die Klage am Freitag abgelehnt
Das Verwaltungsgericht Schleswig hat die Klage abgelehnt. Für den begehrten Eilrechtsschutz bestehe kein Bedürfnis, entschied das Gericht am Freitag (Az.: 8 B 28/20). Der Eilantrag hatte das Ziel, die Umsetzung des Vertrags vorläufig zu verhindern. Die Gemeinde Sylt argumentierte, ihr entstehe ein Schaden hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer zentralörtlichen Funktion. Auch weiche der Vertrag vom bisherigen Wohnraumentwicklungskonzept ab. Den anderen Gemeinden solle deshalb untersagt werden, Bebauungspläne auf der Grundlage des Vertrags zu beschließen.
Das Verwaltungsgericht kam hingegen zu dem Ergebnis, dass für den Eilantrag schon kein Rechtsschutzbedürfnis bestehe. Der Gemeinde Sylt stehe ausreichender Rechtsschutz durch eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle der Bebauungspläne zur Verfügung.
Dazu erklärt Andreas Breitner, Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW): „Das ist eine gute Entscheidung und lässt die Hoffnung zu, dass bald mehr bezahlbarer Wohnraum auf allen Inseln geschaffen werden kann. Auch wenn gegen den Beschluss noch vor dem Oberverwaltungsgericht Beschwerde eingelegt werden kann, so zeigt die Entscheidung der Richter, dass der Druck in den Inselgemeinden an der Nord- und Ostseeküste hoch ist."
In List sollen 300 bezahlbare Dauerwohnungen entstehen
Der ROV ermöglicht nach Angaben des Innenministeriums Ausnahmen vom Wohnbau-Entwicklungsrahmen des Landesentwicklungsplans. Das heißt: Die Gemeinden können neuen Dauerwohnraum schaffen, um den großen Bedarf jedenfalls teilweise zu decken. Eines der ersten Vorhaben, das damit realisiert werden kann, ist der Dünenpark in List. Hier sollen auf dem Gelände der ehemaligen Marineversorgungsschule 300 Einheiten bezahlbarer Dauerwohnraum entstehen. Zudem ist der Bau 90 gewerblicher Ferienhäuser unter Reet geplant, die an wechselnde Gäste vermietet werden sollen.
Kritiker befürchten hingegen, dass durch den ROV nur noch mehr Flächen der Insel versiegelt und nun auch Außenbereiche von Ortschaften zu Bauland werden können. Das Wohnraumproblem hingegen könne dadurch nicht gelöst werden. Denn dass Wohnraum fehle, liege an der ständigen Umwandlung von Wohnungen in Ferienappartements, schreiben etwa die Sylter Grünen auf ihrer Homepage. „Rund 100 Einheiten pro Jahr gehen so verloren.“ Ergebnis: „Eine niemals endende Bauwut, die zunehmend die Insel versiegelt“.
Doch trotz aller Herausforderungen und Probleme: 72 Prozent der von der Sylt Marketing befragten Insulaner bewerten ihren persönlichen Lebensraum Sylt positiv. „Ich finde, das ist ein Mutmacher“, sagte Luft.