List. 250-Millionen-Investition im Norden Sylts: Doch es gibt Gegenwind in List und anderswo – ein bizarrer Streit.

Wer einmal durch List auf Sylt spazierte, der merkte schnell: Irgendetwas stört hier doch. Irgendwie sind die Wege seltsam. Warum? Weil mitten im Ort eine Brache liegt, umgeben von einem nicht so hübschen Zaun. Manche nennen ihn „die letzte Mauer in Deutschland.“ Er umzäunte seit 1958 das Gelände der Marineversorgungsschule. Doch 2007 zog die Bundeswehr ab und hinterließ ein großes Loch. Rein baulich sowieso, aber auch in der Kasse der Gemeinde List. Deren Bürgermeister will dieses Loch nun endgültig schließen: „Die Mauer muss weg!“ Ronald Benck hat etwas vor.

Seit Jahren schon. Er will die verlassene Garnisonsstadt in ein hübsches friesisches Dorf verwandeln mit mehr Einwohnern. Und ohne Loch. „Ich bin noch nie quer durch meinen Ort gegangen“, sagt der Bürgermeister, der in List geboren wurde und schon als Kind den Weg entlang der Kasernen vermied. Zu angsteinflößend wirkten die Soldaten mit den Gewehren um die Schulter auf ihn. Die Bedrohung packte ihre Koffer und rückte ab, dafür zogen Streit und Misstrauen ein – doch dazu später.

Einen ersten Erfolg feierte Benck diesen Oktober beim Richtfest des Lanserhofs. Ein 200-Millionen-Investment für ein Medical-Resort, das ein neues Klientel anziehen und voraussichtlich 120 bis 150 neue Einwohner bringen wird. Nun könnte der nächste große Streich folgen: Ein zweiter Mann der Tat ist bereit, 250 Millionen Euro zu investieren, um die seit Jahren ungenutzte Fläche der ehemaligen Marineversorgungsschule zu bebauen. Er heißt Marc Weinstock, Präsident beim Spitzenclub THW Kiel und Pionier des nachhaltigen Wohnungsbaus.

Verschiedene Gemeinschaftseinrichtungen sind geplant

Der 54-Jährige ist geschäftsführender Gesellschafter der DSK-BIG, einem der größten deutschen Stadtentwickler, und will auf dem 18 Hektar großen Areal drei Komplexe errichten: Rund um den ehemaligen Exerzierplatz, der als Begegnungsfläche erhalten bleibt, entstehen rund 300 neue Mietwohnungen für Insulaner mit einer klimafreundlichen Strom- und Wärmeversorgung. In einem weiteren Komplex im Norden des Areals werden 90 Ferienhäuser mit Reetdach gebaut.

Außerdem sind verschiedene Gemeinschaftseinrichtungen geplant: eine Schwimmhalle, ein Feuerwehrhaus, eine Aula, ein Kindergarten sowie ein Sportplatz. Ursprünglich hatte der Investor auch an eine Pflegeeinrichtung in List gedacht, doch alle winkten ab: Dafür bekommst du nie Personal! Anstatt dessen ist nun ein Co-Working-Space vorgesehen, womit ein unternehmerischer Ansatz außerhalb der Tourismusbranche möglich würde.

Der Plan zeigt, wo die 90 Ferienhäuser, die rund 300 Wohnungen sowie die Gemeinschaftseinrichtungen (Sportplatz, Kita, Schwimmbad, Co-Working-Space etc.) liegen.
Der Plan zeigt, wo die 90 Ferienhäuser, die rund 300 Wohnungen sowie die Gemeinschaftseinrichtungen (Sportplatz, Kita, Schwimmbad, Co-Working-Space etc.) liegen.

Die Mietwohnungen könnten 2021 bezogen werden, doch so einfach ist das nicht. Die Gemeinde Sylt hatte einen sogenannten Raumordnerischen Vertrag (ROV) abgelehnt. Dieser Vertrag stellt die Grundlage für die gesamte Wohnraumentwicklung auf Sylt bis 2030 dar. Das Land Schleswig-Holstein versucht schon lange, eine rechtliche Basis für den Bau von Dauerwohnraum auf Sylt zu schaffen. Der Investor könnte zwar auch ohne den ROV bauen, allerdings nicht in dem geplanten Maße. „Wir haben jetzt schon ein halbes Jahr verloren, weil die Genehmigungen so lange dauern,“ sagt Weinstock.

Bürgermeister Ronald Benck vermutet Neid und Missgunst

Vom Handball ist er plötzliche Konter gewohnt. „Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass Sylter Dauerwohnen auf ihrer Insel verhindern wollen.“ Der Immobilienexperte glaubt, die Verträge würden seitens der Gemeinde Sylt verzögert, weil diese lieber neuen Wohnraum in Westerland schaffen möchte. Doch dort gibt es kaum ausreichend verfügbare Flächen, die nicht schon verplant wären. Laut Weinstock hätten manche Immobilienbesitzer Angst, ihre eigenen Häuser und Wohnungen könnten im Wert sinken, wenn neue Wohnungen mit einem besseren Standard entstehen. „Und auch viele Ferienappartements müssten eigentlich dringend saniert werden“, so Weinstock.

Bürgermeister Ronald Benck vermutet Neid und Missgunst seitens der Gemeinde Sylt, weil die als größte Gemeinde stets der Platzhirsch gewesen sei und nun mit Argwohn beobachte, wie erfolgreich das kleine List sich entwickelt: „Läge die Fläche beispielsweise in Westerland auf dem Fliegerhorst, dann hätte schon längst das Richtfest stattgefunden.“

Eine Visualisierung der elf Neubau-Mehrfamilienhäuser mit 121 Einheiten. Außerdem sind sechs Doppelhaushälften, 39 Reihenhäuser, 105 teilweise öffentlich geförderte Wohnungen und Grundstücke für die Insulaner geplant.
Eine Visualisierung der elf Neubau-Mehrfamilienhäuser mit 121 Einheiten. Außerdem sind sechs Doppelhaushälften, 39 Reihenhäuser, 105 teilweise öffentlich geförderte Wohnungen und Grundstücke für die Insulaner geplant. © Engel International Communications GmbH

Peter Erichsen, der SSW-Fraktionsvorsitzende in der Gemeinde Sylt, stimmte gegen den ROV und erklärte gegenüber dem Abendblatt seine Ablehnung folgendermaßen: „Wir finden das Projekt komplett überzogen und sind viel zu spät in das Vorhaben eingebunden worden. Außerdem bin ich auf Sylt geboren und habe in all den Jahren noch nie einen Investor erlebt, der wirklich etwas für die Gemeinden tut.“

"Wir wollen kein zweites Mallorca werden"

Der 75-Jährige befürchtet, dass in die neuen Wohnungen Insulaner ziehen, deren alten Wohnungen dann wiederum verkauft werden an Entwickler, die sie umwandeln oder ganz abreißen, um weitere Ferienhäuser im Friesenstil zu errichten. Diese Entwicklung beobachte man immer wieder, doch die Insel sei jetzt schon viel zu überladen mit Touristen: „Wir wollen kein zweites Mallorca werden. Das sind wir im Sommer ja schon fast.“

Etwas anders sieht die Argumentation der Fraktion „Zukunft“ gegen den Dünenpark aus. Der Vorsitzende Lars Schmidt sagte dem Abendblatt, seine Fraktion sei absolut für den Erhalt und die Schaffung von Dauerwohnraum, aber nur durch die öffentliche Hand. „Bei Investorenmodellen wie diesem ist der Insel in der Vergangenheit immer viel versprochen und wenig eingehalten worden. Warum dies nun beim Dünenpark anders sein sollte und wir mehr Vertrauen haben sollten, erschließt sich uns nicht,“ so Schmidt. Besonders kritisch findet er das verknüpfte Geschäft mit 90 neuen Ferienunterkünften und den Druck vonseiten der Landesregierung. „Sie will uns Inselgemeinden schlagartig in einen unausgereiften, raumordnerischen Vertrag drängen. Wir haben genug schlechte Erfahrungen gesammelt, um uns diese nun zu ersparen.“

Thema Verkehr ist auf Sylt ein Dauerpro­blem

Auch der Bürgermeister der Gemeinde Sylt, Nikolas Häckel, fürchtet, dass „die Nicht-Dauerwohnungen negative Folgen für Sylt haben“. Seiner Ansicht nach blockiere die Gemeindevertretung Sylt keinen Dauerwohnraum. Sie unterstütze die Erhaltung und Bildung von Dauerwohnraum entsprechend des von allen Inselgemeinden beschlossenen Wohnraumentwicklungskonzeptes. Nikolas Häckel erklärt: „Die Gemeinde Sylt hat Bedenken, ob dieses Gesamtprojekt negative verkehrliche Entwicklungen zur Folge hat.“

Tatsächlich wird der angeblich durch den Dünenpark hervorgerufene Verkehrskollaps häufig als Gegenargument bemüht. Und in der Tat stellt das Thema Verkehr auf Sylt ein Dauerpro­blem dar. Besonders der Abschnitt zwischen Kampen und Westerland kann während der Hauptsaison als Nadelöhr empfunden werden. Wie immer, wenn Ressourcen knapp sind, fällt es schwer, einen gerechten Verteilmechanismus zu schaffen. Erhöht man die Preise für Autos auf der Insel, stünde sogleich der Vorwurf im Raum, nur noch Reiche könnten sich Sylt leisten.

Dünenpark würde die Verkehrs-Problematik nicht verschärfen

Eine andere Herangehensweise wäre eine Art Obergrenze für Autos. Eine Lotterie entschiede dann, wer seinen Wagen mitbringen darf und wer nicht. Gäste mit Pkw müssten sich vorab anmelden und auf ihr Los-Glück hoffen. Doch egal wie, der Dünenpark würde die Verkehrs-Problematik nicht verschärfen. Zu diesem Ergebnis kommt ein im Februar veröffentlichtes unabhängiges Gutachten des Wasser- und Verkehrs-Kontors aus Neumünster. Dort heißt es in der Zusammenfassung: „Aus verkehrlicher Sicht wird auch langfristig bei Realisierung des Nachnutzungskonzeptes der ehemaligen Marineversorgungsschule (MVS) die Leistungsfähigkeit des Streckennetzes in seiner heutigen Form sichergestellt. Am Knotenpunkt Listlandstraße/Hafenstraße werden keine baulichen Maßnahmen zur Kapazitätssteigerung im Kfz-Verkehr erforderlich.“

Der Investor hat außerdem angekündigt, alle Feriengäste würden den ÖPNV kostenfrei nutzen können und bietet außer E-Bikes und Lastenrädern zehn Car-Sharing-Autos an. Die Lister Grünen begrüßen diesen Ansatz weg von der Fokussierung auf das eigene Auto eindeutig. Doch wenn die Fronten erst einmal verhärtet sind, dann nützen auch unabhängige Experten und nachhaltige Ansätze nichts.

Der Fraktionsvorsitzende der „Insulaner“ und Vorsitzende des Sozial- und Gesundheitsausschusses Hicham Lemssiah zeigt sich extrem enttäuscht, dass seine Gemeinde als einzige dem ROV mit dem Land nicht zustimmte. Eine kleine Mehrheit der Gemeindevertreter zeige sich „stur und kompromisslos“, und die erwünschte Verdichtung der Inselmitte sei keine gute Idee: „Wie viel mehr Verkehr und Wohnraum kann Westerland denn überhaupt noch vertragen? Dieses zentralistische Planen ist ein grotesker, völlig kontraproduktiver Anachronismus, den wir endlich mal ablegen müssen. Wir werden die insularen Pro­bleme nicht alleine in Westerland lösen!“

Zwei entscheidende Sitzungen vor Weihnachten

Lemssiah arbeitet als Pflegefachkraft und zahlte 1000 Euro warm für seine 40 Quadratmeter große Wohnung. Er verdient 1600 Euro netto. Bis er endlich eine günstigere Unterkunft fand, hätte er sich Sylt eigentlich gar nicht leisten können: „Viele junge Leute ziehen daher weg auf das Festland, unsere Insel verspielt ihre Zukunft.“ Um der Überalterung der Einwohnerschaft zu entgegnen, die Personalnot zu verringern und die hohen Mietpreise auf dem freien Markt wieder in vernünftige Maße zu drücken, „ist es zwingend notwendig, die inselweit verfügbaren Flächen zu nützen,“ so Lems­siah.

Also auch die in List. Noch vor Weihnachten finden nun zwei entscheidende Sitzungen statt. Am 7. Dezember tagt der Bauausschuss. Die kleineren Gemeinden Hörnum, Wenningstedt-Braderup, Kampen und List könnten dort einen eigenen ROV mit dem Land Schleswig-Holstein unterschreiben; die Gemeinde Sylt bliebe außen vor. „Wenn meine große Gemeinde Sylt ihre kleinen Nachbarn immer mit Ohrfeigen demütigt, kann sie nicht erwarten, dass diese weiterhin mit ihr zusammenarbeiten,“ sagt der Vertreter der Insulaner, Hicham Lemssiah. Für die interkommunale Zusammenarbeit und den Inselfrieden wäre die Abspaltung der kleinen von der großen Gemeinde wahrscheinlich wenig förderlich. Doch die Wunden scheinen tief zu sitzen. „Dieses Machtgehabe auf so kleinem Raum ist unglaublich,“ sagt Lemssiah.

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Am 16. Dezember kommt dann die Gemeindevertretung zusammen. Nur wenn dort ein Satzungsbeschluss gefunden und veröffentlich wird, erhält der Entwickler DSK-BIG ein Baurecht. Sollte er es nicht bekommen, wären die 50 Millionen Euro, die das Unternehmen bislang in die Erschließung gesteckt hat, futsch. Doch Marc Weinstock wusste, worauf er sich einließ, als er das Grundstück ohne Baurecht erwarb.

Investor: "Eine Stimmung Arm gegen Reich"

Der Investor befürchtet, Corona habe ihm nicht in die Karten gespielt. Einige Insulaner hätten die Ruhe auf der Insel sehr angenehm empfunden und täten nun alles, um eine Weiterentwicklung zu verhindern. Dabei sei die Lage doch kaum mehr auszuhalten: „Die Edeka-Mitarbeiter stehen beispielsweise morgens um 5 Uhr auf, um vom Festland aus nach List zur Arbeit zu fahren, und abends müssen sie wieder zurück,“ berichtet der Investor: „Wer nimmt denn so eine Anstrengung auf Dauer auf sich?“ Weinstock verweist darauf, für die Krankenschwester und den Polizisten zu bauen, nicht alle könnten mehr als 5000 Euro für den Quadratmeter ausgeben, um Eigentum zu erwerben: „Ich beobachte hier eine Stimmung Arm gegen Reich.“

Ein Insulaner, der nicht namentlich genannt werden möchte, erklärte, wer zufrieden in seinem großen Haus säße, der wünsche sich vielleicht lieber eine Hundewiese auf der Freifläche, den interessiere es einfach nicht, ob manche in Kellerbuden hausen müssten.

Zurück zum Bürgermeister und dem Loch in seinem Ort. Roland Benck versteht die verschiedenen Interessenlagen – und hofft trotz allem, einen Konsens zu finden: „Das ist mit Abstand das komplizierteste Bauleitverfahren, das ich je erlebt habe.“

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