Pinneberg. Sie rettet Lebensmittel vor der Tonne: Was Pinnebergerin Janine Gerads antreibt und wieso sie sich gern überflüssig machen würde.

„Mindestens haltbar bis“ bedeutet alles andere als „sofort tödlich ab“. Dennoch landen massenweise bester Lebensmittel in der Tonne. Nach Informationen der Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein verursacht jede Landesbewohnerin und jeder Landesbewohner im Schnitt 78 Kilogramm Lebensmittelabfälle im Jahr. Insgesamt werden hier also 225.000 Tonnen Essbares weggeworfen statt verzehrt.

Schlimm genug, aber es kommt noch dicker. Nicht nur in den privaten Haushalten fliegen Lebensmittel in den Müll. Rund 40 Prozent der Lebensmittelabfälle entstehen schon bei der Produktion und Verarbeitung, aber auch in Restaurant und im Handel. Diese Verschwendung ist nicht nur ein Klimafrevel, sondern auch ein Schlag ins Gesicht aller Armutsbetroffenen.

Foodsharing in Pinneberg: Der Lebensmittelverschwendung entgegentreten

Das wollen sich längst nicht mehr alle gefallen lassen. Allein in Pinneberg haben sich schon 460 verifizierte „Foodsaver“ (engl. „Lebensmittelretter“) auf der Internetplattform www.foodsharing.de zusammengefunden, die vom Verein Foodsharing e. V. getragen wird. Eine der Retterinnen ist die berufstätige, alleinerziehende Zweifachmama Janine Gerads, die sich nach Dienstschluss nicht nur um Kinder, Hund und Haus kümmert, sondern bis zu 20 Stunden in der Woche als Lebensmittelretterin unterwegs ist.

Selbst wenn wir hier im Überfluss leben, können wir doch nicht völlig sorglos mit unseren Ressourcen umgehen“, erklärt Gerads ihre Überzeugung für das Ehrenamt. Wertschätzung statt Verschwendung sei das Credo. Die 38-Jährige sitzt gerade im Auto, im Kofferraum stehen Kisten mit Bananen, Äpfeln, Pflaumen. Das Obst hat sie soeben bei Biobob in Altona abgeholt, einem Händler, der Bioobst an Büros liefert. Gerads kann hier Obst abholen, das frischer und besser aussieht als in so manchem Supermarkt. Völlig verrückt, dass es ohne Foodsharing in der Tonne gelandet wäre.

Janine Gerads aus Pinneberg und ihre „Foodsharing-Kollegin“ Gudrun sortieren das Obst, das ihnen der Händler Biobob in Altona bereitgestellt hat.
Janine Gerads aus Pinneberg und ihre „Foodsharing-Kollegin“ Gudrun sortieren das Obst, das ihnen der Händler Biobob in Altona bereitgestellt hat. © Anika Würz

Bei der Abholung war Gerads eine weitere Retterin behilflich, Gudrun, die dem Regenwetter trotzend und mit viel Packtaschenstauraum angeradelt kam. Dank Dachverein Foodsharing ist es möglich, dass sich kleine Teams wie Gudrun und Janine Gerads schnell und unkompliziert für Rettungsaktionen zusammenfinden.

„Wir nehmen niemandem etwas weg“, sagt die Pinnebergerin

Neben Biobob klappert die Pinnebergerin regelmäßig eine Reihe von Drogerien, Supermärkten und Restaurants ab. Viele der Produkte, die sie abholt, haben das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten, aber längst nicht alle.

Zwei- bis viermal in der Woche ist Gerads auf Lebensmittelrettungsmission, erzählt sie. Ob sie dort nur drei Bananen oder kistenweise übrig gebliebene Weihnachtsschokolade abholt, weiß sie vorher oft nicht – und es ist ihr auch egal. Ums Retten gehe es, nicht um die Menge. Dass sich in Gerads Kofferraum 60, 70 Kilogramm Lebensmittel stapeln, sei aber keine Seltenheit.

Nach ihrem Besuch bei Biobob können Gerads und „Kollegin“ Gudrun die Waren behalten oder weiterverteilen. „Wichtig ist: Wir kommen hinter den Tafeln und hinter anderen sozialen Einrichtungen. Wir wollen niemandem etwas wegnehmen“, sagt Gerads. „Die meisten, die mit Foodsharing kommen, die brauchen das ja eigentlich gar nicht. Wir wollen einfach, dass es nicht weggeschmissen wird.“

Dennoch gilt natürlich: Wer gerettete Lebensmittel isst, muss weniger selbst kaufen. Als „Lohn“ für ihre Mühen sparen die Retterinnen und Retter also bares Geld. Anders sieht das mit der Zeit aus. Bis zu 20 Stunden in der Woche ist Gerads unterwegs, besucht die kooperierenden Unternehmen, packt aus und ein, lädt Menschen zu sich und verteilt weiter.

Foodsharing: Beim Verteilen wird geschnackt – und gesnackt

Zurück zu Hause drapiert Gerads die Obstkisten in ihrem Flur. Fast 30 Abnehmerinnen und Abnehmer schauen regelmäßig bei ihr vorbei und füllen ihre mitgebrachten Taschen, diesmal mit Äpfeln und Bananen. Nachbarn sind darunter, Freunde, Freundesfreunde oder Eltern, die Gerads aus der Schule ihres Kindes kennt.

Wenn Janine Gerads mit den geretteten Produkten in Pinneberg eintrifft, kommen Nachbarn, Freunde und Bekannte vorbei, um die Lebensmittel abzuholen.
Wenn Janine Gerads mit den geretteten Produkten in Pinneberg eintrifft, kommen Nachbarn, Freunde und Bekannte vorbei, um die Lebensmittel abzuholen. © Anika Würz

Vor Ort wird geschnackt und gesnackt – eine weitere, soziale Seite des Foodsharings, an der Gerads Gefallen findet. Falls es jemand etwa berufsbedingt einmal nicht zur rechten Zeit schafft, die Waren abzuholen, stellt sie die Lebensmittel in Styropor-Kühltruhen auf dem Grundstück bereit.

Auf eine Foodsharing-Gelegenheit in Pinneberg hatten einige von Gerads Besucherinnen schon länger gewartet, erzählen sie zwischen den Obstkisten hockend. Bislang seien sie nach Appen oder Uetersen gefahren, wo ebenfalls Foodsharing-Ehrenamtliche Lebensmittel verteilen. Hierher jedoch, direkt um die Ecke bei Janine Gerads, lässt es sich entspannt spazieren oder radeln. Denn auch das ist den Abholerinnen wichtig. Bei der Lebensmittelrettung ist das Thema Klimaschutz schließlich unumgänglich.

In Pinneberg gibt es 460 Lebensmittelretter – teilnehmende Betriebe gesucht

Mit abgelaufenen Lebensmitteln habe sie nie gefremdelt, erzählt Gerads. Erinnert sie sich doch an die über Jahre eingelagerten Marmeladen ihrer Großmutter, die stets hervorragend geschmeckt haben. Als eine Freundin sie auf Foodsharing aufmerksam machte, musste die Pinnebergerin daher nicht lange überlegen, ob sie Teil der Retter-Gemeinschaft werden möchte.

Apropos Pinneberg: Viele Betriebe, bei denen sie Lebensmittel abholt, befinden sich in Hamburg. Denn zwar gibt es in Pinneberg schon einige Hundert Retter, allerdings bislang nur 19 Kooperationen mit Betrieben. „Im Aufbau“ befinde sich das Foodsharing in ihrem Wohnort, formuliert es Gerads. Weitere Unternehmen, die mitmachen wollen, seien willkommen.

Von Foodsharing-Mitgliedern Lebensmittel-„Abfälle“ regelmäßig und selbstorganisiert abzuholen zu lassen, lohnt sich im Übrigen auch für die Betriebe. Sie sparen sich Kosten und Arbeit bei der Entsorgung und gehen sogar oft mit ihrer Zusammenarbeit mit Foodsharing hausieren – ist schließlich eine gute Sache.

Sicherheit für Kooperationspartner: Foodsharing ist bestens organisiert

Der Vorteil daran, Lebensmittel per Foodsharing statt gänzlich selbstorganisiert zu retten, sind die präzisen Richtlinien, sagt Gerads, die die Zusammenarbeit auch für die Betriebe einfach und seriös machen. Der 2012 gegründete Verein zählt mittlerweile mehr als eine halbe Million Retter im deutschsprachigen Raum, die sich in verschiedenen Stufen beteiligen.

„Foodsharer“ (engl. „Lebensmittel-Teilende“) dürfen Abholungen tätigen, sind aber im Gegensatz zu „Foodsavern“ nicht verifiziert. Den Kontakt zu den Betrieben halten wieder andere und sogenannte „Botschafter“ repräsentieren den Verein in ihrem Stadtteil oder ihrer Region, schulen neuere Mitglieder und organisieren Treffen. Außerdem können sich Foodsharing-Mitglieder in diversen Arbeitsgruppen engagieren.

Weil die Mitglieder Seminare absolvieren und sich an einen Kodex halten müssen, können die kooperierenden Betriebe auf eine professionelle Zusammenarbeit zählen. Dennoch funktioniert Foodsharing zu fast 100 Prozent ehrenamtlich, erzählt Gerads, die selbst seit zwei Jahren dabei ist, doch erst seit Juni in größerem Stil Gerettetes verteilt.

Foodsharing Pinneberg: „Wir würden uns am liebsten selbst überflüssig machen“

So viel Freude die Pinnebergerin aus der Lebensmittelrettung zieht, so gern würde sie das Ehrenamt irgendwann aufgeben können. Denn: „Wir würden uns eigentlich am liebsten selbst überflüssig machen“, sagt sie.

Dass Händler und Gastronomen besser kalkulieren und mehr Bewusstsein für den Wert von Lebensmitteln entwickeln, sodass die Lebensmittelrettung unnötig würde, ist Gerads großer Wunsch. Und wer zehn Minuten vor Ladenschluss noch eine vollbestückte Bäckertheke erwartet, wie es sie heute allzu häufig gibt, der hat dann einfach mal Pech.

Kleine braune Stelle? Was soll’s. Zack, wegschneiden und schmecken lassen!
Kleine braune Stelle? Was soll’s. Zack, wegschneiden und schmecken lassen! © Anika Würz

Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist kein Verfallsdatum

Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist kein Verfallsdatum. Es gibt an, ab wann sich ein Produkt in seinen spezifischen Eigenschaften – etwa Geschmack, Farbe oder Konsistenz – verändern könnte. Das heißt nicht zwingend, dass es dann bereits schimmlig, faulig oder verdorben ist.

Deshalb dürfen Lebensmittel mit überschrittenem MHD sogar noch verkauft werden, was oft zu einem reduzierten Preis passiert. Viele Händler sehen dennoch gänzlich von einem Verkauf abgelaufener Lebensmittel ab und werfen sie stattdessen weg. Der Grund: Mit dem Ablauf des MHDs haftet nicht mehr der Hersteller, sondern der Händler für eventuelle Schäden.

Foodsharing: Mindesthaltbarkeitsdatum nicht mit dem Verbrauchsdatum verwechseln

Diese Übersicht der Verbraucherzentrale macht gut deutlich, welche Lebensmittel sich in der Regel wie lange verzehren lassen – trotz abgelaufenen MHDs. Dabei gilt immer: Vor dem Verzehr aufreißen, gucken, riechen, vorsichtig probieren und dann entscheiden, ob das Produkt noch einwandfrei ist.

Wichtig ist, das MHD nicht mit dem Verbrauchsdatum zu verwechseln. Dieses lässt sich etwa auf Fleisch- und Fischprodukten entdecken. Hier ist aus gesundheitlichen Gründen dringend davon abzuraten, die Lebensmittel nach Ablauf des Verbrauchsdatums noch zu verzehren.