Norderstedt. Bundesweiter Präzedenzfall? Stadt erklärt, warum sämtliche Pflanzen und Samen des Start-Ups Bigger Trees beschlagnahmt wurden.
Seit rund vier Wochen ist das Cannabisgesetz in Kraft und damit die umstrittene Teil-Legalisierung der Droge Realität. Vielleicht war es bloßer Zufall, dass es hier passierte, doch die Durchsuchung und Beschlagnahmung sämtlicher Pflanzen und Samen des Start-Ups Bigger Trees in Norderstedt könnte mit seinen Folgen zu einem Präzedenzfall für ganz Deutschland werden. Am Montag, drei Tage nach der aufsehenerregenden Maßnahme des Ordnungsamtes und der Polizei, hat die Verwaltung nun ihre Beweggründe erläutert.
Und zwar wurden die Behörden aus zwei Gründen aktiv. Beide hängen unmittelbar damit zusammen, dass die beiden Gründer Florian Reiche und Moritz Kleine erst vor wenigen Tagen ihr Geschäftsmodell öffentlich präsentierten. Neben dem Verkauf von Technik, Equipment oder Dünger für den Anbau – alles rechtlich zweifelsohne okay – wurden auch Jungpflanzen und Samen genannt. Und das blieb auch dem Rathaus nicht verborgen.
Razzia im Cannabis-Shop: Wieso Norderstedt Verkauf stoppte
„Anlass war, dass die besagte Firma, die bis dato keine Aktivitäten im Zusammenhang mit Cannabis bei der Gewerbeanmeldung genannt hatte, jüngst öffentlich-medial den Verkauf von Cannabispflanzen beworben hatte. Dies war und ist rechtswidrig“, teilt Bernd-Olaf Struppek, Sprecher der Stadt, auf Abendblatt-Anfrage schriftlich mit. „Werbung und jede Form des Sponsorings für Cannabis und für Anbauvereinigungen sind verboten“, so heißt es in dem Gesetz tatsächlich, und dazu zählt mutmaßlich auch eine Pressemitteilung.
Die Konsequenz: Am 26. April fand am Firmensitz an der Oststraße eine Gewerbeüberprüfung statt. „Nach einer Einschätzung vor Ort und in Absprache mit der Polizei wurden Cannabis-Samen und sogenannte Jungpflanzen sichergestellt“, bestätigt die Verwaltung. Bigger Trees hatte zuvor sehr offen kommuniziert, auch dieses „Vermehrungsmaterial“ zu verkaufen, wenn auch nur an „Clubmitglieder“, also quasi namentlich registrierte Kunden.
Bigger Trees: Unternehmen verkauft vorerst keine Cannabis-Jungpflanzen mehr
Struppek: „Es ist die Rechtsauffassung der Stadt als Ordnungsbehörde, dass das neue, am 1. April in Kraft getretene Cannabis-Gesetz die kontrollierte und strikt geregelte Abgabe (mittels Anbauvereinigungen) von Cannabis für private Zwecke erlaubt. Nicht aber den gewerblichen, unkontrollierten Verkauf.“ Zumal würden die Regelungen für die Anbauvereinigungen erst ab dem 1. Juli gelten. „Das Handeln des Unternehmens stellt nach Ansicht der Stadt mithin einen Rechtsverstoß dar, auf den nunmehr mit der Gewerbeüberprüfung vor Ort reagiert wurde. Welche rechtlichen Konsequenzen sich für das Unternehmen ergeben, wird das laufende Verfahren zeigen.“
Bigger Trees hat den Verkauf von Samen, Stecklingen und Jungpflanzen vorerst eingestellt – „aufgrund rechtlicher Unklarheiten“, teilt das Unternehmen auf seiner Website mit. „Wir sind im engen Austausch mit dem Ordnungsamt und geben Euch schnellstmöglich Updates.“ Geschäftsführer Florian Reiche hatte schon am Freitag betont, mit bestem Gewissen gehandelt zu haben. Aus seiner Sicht erlaube das Gesetz den nun gestoppten Handel. Eine Jungpflanze war beispielsweise zum Selbstkostenpreis von 12 Euro zu haben, angeboten wurden 24 Sorten mit unterschiedlichem THC-Gehalt.
Cannabisgesetz: Keine exakte Regelung über Verkauf von „Vermehrungsmaterial“ in Deutschland
Klar ist: „Vermehrungsmaterial“ ist per Gesetz noch kein Cannabis. Hierfür müssen die Pflanzen erst einmal blühen. Auch die Obergrenze von drei Pflanzen für den privaten Anbau greift erst dann. Sprich: Es wäre möglich, mehr Setzlinge zu züchten, die überzähligen müssten dann aber vernichtet werden.
Das Problem: Im Cannabisgesetz ist der Verkauf von Jungpflanzen oder Samen für Gewerbetreibende in der Bundesrepublik nicht exakt geregelt. Darauf weist auch Georg Wurth hin, Geschäftsführer des Deutschen Hanf-Verbandes, einer Lobbyorganisation, die sich seit langer Zeit für eine Legalisierung und auch den Verkauf in Shops einsetzt. „Es war zu erwarten, dass es früher oder später zu einer Razzia kommt. Wir haben damit gerechnet, dass es gerichtlich aufgearbeitet werden muss. Erst hatten wir es so verstanden, dass der Verkauf von Samen und Stecklingen durch private Händler nicht möglich ist. Und das Cannabisgesetz suggeriert das, da nur der Bezug von Samen aus dem EU-Ausland und der Bezug von Samen und Stecklingen über die Anbauvereinigungen erwähnt wird.“
„Ich würde Betreiber ermutigen, den Rechtsweg zu beschreiten“
Aber, so Wurth: „Wenn man genau reinguckt, steht da nirgends, dass der Verkauf von Stecklingen und Samen in Deutschland verboten ist. Aus unserer Sicht ist der Verkauf in Deutschland legal, weil er nicht sauber verboten ist. Das würde ich gar nicht als Graubereich bezeichnen.“
Er hat in Deutschland von keinem vergleichbaren Fall gehört. Und so ist Norderstedt auch in Berlin, im Deutschen Bundestag, Gesprächsthema. Bengt Bergt ist dort Abgeordneter der SPD, er kommt aus Norderstedt, und er hatte stets für eine liberalere Drogenpolitik plädiert. „Dass man auf diejenigen draufhaut, die in Deutschland Innovation voranbringen und Kommerzialisierung kontrolliert umsetzen wollen, finde ich schwierig.“ Er sieht hier eine Grauzone. „Ich würde den Betreiber ermutigen, den Rechtsweg zu beschreiten.“ Genau das hat Bigger Trees bereits angekündigt.
Doch warum ist hier das Gesetz nicht klarer? „Wir hatten gesagt, dass wir den Verkauf in einer späteren Stufe initiieren.“ Gleich zu Beginn sei das nicht möglich gewesen. „Wir haben es nicht durchbekommen, es war eine politische Kompromisslösung, die absehbare Schwierigkeiten erzeugt.“
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Das kritisiert Melanie Bernstein, Bundestagsabgeordnete der CDU aus Wahlstedt im Kreis Segeberg, scharf. „Es war klar, dass so etwas wie in Norderstedt passiert und dass wir relativ schnell einen zu klärenden Fall wie diesen haben würden. Das Gesetz ist mit der heißen Nadel gestrickt worden. Man schafft ein Gesetz, mit dem der Konsum erlaubt, aber mit dem nicht geklärt ist, wie man sich das Cannabis beschafft – das ist unlogisch. Das fördert doch nur den Schwarzmarkt. Der Bundesgesetzgeber schiebt so die Verantwortung weiter auf die lokale Ebene.“
Cannabis: Im EU-Ausland dürfen Samen gekauft werden
Und das sei nicht die einzige Schwäche des Cannabisgesetzes, das sie „handwerklich grottenschlecht“ nennt. „Es bietet vielerlei Lücken, nicht nur in diesem Bereich, sondern auch, was die Verkehrspolitik oder die Arbeitssicherheit angeht, wo sie den Cannabis-Einfluss nicht messen können. Auch für den Jugendschutz ist es eine Katastrophe.“
Wer übrigens Cannabis-Samen oder auch Stecklinge kaufen möchte, kann das trotzdem problemlos tun, und zwar im EU-Ausland, etwa in Österreich. Das ist nämlich ausdrücklich erlaubt. Sehr zur Freude der dortigen Shops, die wegen des Kundenandrangs aus Deutschland bereits vor langen Lieferzeiten warnen.