Norderstedt. Überfall auf eine Frau am U-Bahnhof in Norderstedt. Zeugen schreiten nicht ein. Zurück bleiben ein verstörtes Opfer und viele Fragen.

Dass in Norderstedt immer wieder Menschen auf der Straße überfallen werden, dafür gab es in den vergangenen Monaten viele traurige Beispiele. Doch spätestens der Fall der jungen Musikerin und Lehrerin Anna Grig aus Norderstedt wirft die Frage auf, wie weit es mit der Zivilcourage mancher Menschen in der Stadt bestellt ist. „Ich weiß nicht, was mehr weh getan hat: Der Überfall oder die Tatsache, dass Leute daneben gestanden und nichts getan haben“, sagt die Harfenistin.

Die Geschichte des Überfalls auf die Lehrerin am 24. März, gegen 21.50 Uhr am U-Bahnhof Richtweg ist eine von vielen in Norderstedt und Deutschland. Die Kriminalstatistik für den Kreis Segeberg spricht von einem deutlichen Anstieg des Raubes auf öffentlichen Straßen, Wegen oder Plätzen. Im Vergleich zu 2022 hätten sich die Fallzahlen im Jahr 2023 nahezu verdoppelt (2022: 33 Fälle/2023: 65 Fälle).

Für Anna Grig und die meisten anderen Opfer sind der Verlust der Tasche oder der Wertsachen das kleinere Problem. Viel schwerer wiegen der Verlust des persönlichen Sicherheitsgefühls in der Öffentlichkeit, das Trauma der erlebten Ohnmacht und der Verlust eines Urvertrauens in die sie umgebenden Menschen. Besonders, wenn man keine Hilfe von ihnen erfahren hat, so wie Anna Grig.

Der Überfall: „Ich dachte, ich wäre allein im Zug.“

Am 24. März saß die Norderstedterin in einem Wagen der U-Bahnlinie 1 von Hamburg in Richtung Endstation Norderstedt-Mitte. „Ich kam von einem Treffen mit einigen Künstlern zurück. Ich habe mich nie wirklich unsicher gefühlt, deshalb war ich ziemlich entspannt und freute mich auf zu Hause. Ich saß im letzten Wagen des Zuges, weil die in Mitte immer direkt am Ausgang zum Stehen kommen. Ich dachte ehrlich, ich wäre allein im Zug.“

Kurz vor der Station Richtweg sah sie diesen Mann, der an einer der Türen des Waggons stand. 1,80 Meter groß, durchschnittliche Statur, er trug eine dunkelblaue Jacke-Weste-Kombi mit einem grauen Kapuzenpullover. Der Zug hielt, die Türen öffneten sich. „Und das nächste, was ich weiß, ist, dass der Mann mir kurz vor dem Schließen der Türen meinen Rucksack wegreißt und hinausstürmt“, sagt Anna Grig.

Sie hatte Angst. Doch sie rannte hinterher.

Der Tatort: Die U-Bahnstation Richtweg.
Der Tatort: Die U-Bahnstation Richtweg. © Christopher Mey | Christopher Mey

Sie habe vielleicht eine halbe Millisekunde gezögert. „Ich hatte Angst, aber ich war mehr als alles andere genervt, verwirrt und schockiert. Also rannte ich hinterher. Meine Gedanken waren: Wenn er weg ist, habe ich wenigstens etwas versucht!“ Im Rucksack waren obendrein wichtige und für Anna Grig wertvolle Dinge. Etwa ein Tablet-Computer mit allen ihren Musikkompositionen und Noten, eine Ersatzbrille und Kontaktlinsen, das Portemonnaie.

„Ich glaube, ich habe dem Kerl einen ziemlichen Schrecken eingejagt“, sagt Grig. „Er ließ meine Tasche fallen und fing an zu schreien: ,Sie gehört mir! Meine Tasche!‘“ Das war absurd. Anna Grig hob den Rucksack auf und blickte sich um: Da waren zwei Menschen auf dem Bahnsteig, die geradewegs hinausgingen und zusahen, aber nichts taten. „Ich schrie nach Hilfe und Polizei und verlor vor lauter Stress meine Stimme.“

Der Täter kam nun wieder auf sie zu und wollte ihr erneut den Rucksack entreißen. Eine Wasserflasche aus dem Rucksack flog im hohen Bogen auf die Bahngleise. Noch dazu griff der Mann nach dem Kopfhörer und dem Smartphone, die Grig beide am Körper trug. „Er riss den Kopfhörer dabei in zwei Teile.“ Schließlich ließ er ab von Anna Grig und ihrem Rucksack und flüchtete ohne Beute zum Ausgang des Bahnsteigs und verschwand.

Zeugen gehen einfach weg und lassen Opfer alleine

„Ich rannte hinter den Zeugen des Überfalls her. Ich brauchte Hilfe, wollte nicht alleine sein und einfach nur etwas moralischen Beistand, vielleicht ein Taschentuch oder einen Schluck Wasser. Ich war in diesem Moment so erschöpft, dass ich nicht einmal wusste, was ich als Nächstes tun sollte. Ich konnte kaum zwei Wörter zusammenbringen.“

Anna Grig erreichte die Zeugen. „Ich fing an, fast bettelnd, um Hilfe zu bitten: Bitte, hilf mir! Ich weiß nicht, was ich tun soll!“ Darauf antworteten sie: „Das geht uns nichts an. Du hast dein Handy, du rufst selbst die Polizei!“ Ich war so gestresst, dass ich gar nicht wusste, welche Nummer ich anrufen soll. „110!“, sagte der Mann über seine Schulter und ging mit seiner Begleitung weg.

Was, wenn der Täter zurückkommt?

„Ich blieb allein und völlig verängstigt auf dem Bahnsteig zurück“, sagt Anna Grig. „Was ist, falls er zurückkommt? Was wäre, wenn er dieses Mal ein Messer hätte?“ Sie rief die Polizei und die Beamten waren glücklicherweise innerhalb von fünf Minuten am Tatort. „Aber es waren einige der stressigsten fünf Minuten meines Lebens.

Die Beamten kamen und taten alles, um ein klares Bild des Vorfalls zu bekommen. „Sie versicherten mir, dass es Kameras gäbe und sie nachsehen würden. Ich musste immer noch mit dem Zug nach Hause fahren und von Norderstedt-Mitte aus nach Hause gehen. Mein Mann wartete mit einer Tasse Tee und einer Schulter zum Ausweinen auf mich.“

Mit der verweigerten Hilfe durch die Zeugen kommt Anna Grig bis heute schwer zurecht. Was hätte sie sich von den Zeugen erhofft? „Es wäre natürlich nett gewesen, wenn sie sich dem Täter in die Quere gestellt hätten, aber zumindest bei der Beschreibung hätten sie als Zeugen helfen oder einfach dort bleiben können, bis die Polizei kommt, auch ohne zu reden oder ohne direkten Kontakt, das wäre für mich in Ordnung gewesen. Aber völlig allein gelassen werden? Das war erschreckend!“

Diskussion auf Facebook: „Was erwartest du?“

Wie genau soll man sich verhalten, wenn man Zeuge einer solchen Tat wird? Als Anna Grig über Facebook nach Zeugen für den Vorfall sucht, entwickelt sich eine Diskussion mit etlichen Norderstedtern über diese Frage. Ein Mann zeigt sich schockiert über die unterlassene Hilfeleistung und sagt: „Ich hätte wirklich sofort geholfen. Das ist Ehrensache. Stichwort Courage. Als Mann sollte man schon helfend eingreifen. Leichter gesagt, als getan. Aber wenn ich eine einzelne Person sehe, die eine solch feige Tat begeht, dann helfe ich!“

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Frauen in der Diskussion reagieren anders: „Dein Anspruch, dass fremde Personen bei einem Raubüberfall ihre Gesundheit aufs Spiel setzen sollen, ist etwas überhöht. Dableiben oder Kontaktdaten für die Anzeige tauschen – ja. Aber die fremden Leute können auch nicht wissen, ob die Person ein Messer oder Schlimmeres hat.“ Eine andere Dame wird deutlicher: „Wegen einer Tasche mit billigem Zeug drin stellt sich niemand in den Weg. Und die Tasche hatte er ja nicht einmal bekommen. Was erwartest du? Soll sich jemand wegen ein paar Kopfhörer ein Messer in den Bauch rammen lassen?“

Eine andere Frau äußert sich ehrlich: „Ich hätte mich dem Täter auch nicht in den Weg gestellt. Ich wäre nicht vorbereitet darauf, wenn mir etwas passiert wäre. Da ,nur‘ die Tasche geklaut und diese zurückerobert wurde, hätte ich persönlich mir nur die Optik des Menschen gemerkt, um diese unterstützend der Polizei zu melden.“

Widerstand leisten? Nur wenn man „reelle Chancen“ hat

Grundsätzlich gilt in solchen Situationen das Jedermann-Recht: Jeder und jede darf in Deutschland einen Straftäter so lange festhalten, bis die Polizei zur Klärung der Vorwürfe eintrifft. Was das genau bedeutet, ist ein weites Feld. Vor übereifrigem Heldentum oder Handgreiflichkeiten warnt die Polizei.

Den Opfern rät sie, Widerstand gegen den Täter nur dann zu leisten, wenn man sich der Täterin oder dem Täter körperlich überlegen fühle und „reelle Erfolgsaussichten“ bestünden. „Gerade als älterer Mensch könnten Ihnen bei aktiver Gegenwehr durch massive Gewaltanwendung oder durch einen Sturz erhebliche Gesundheitsschäden drohen“, teilt die Kriminalprävention der Polizei unter polizei-beratung.de mit.

Man solle Ruhe bewahren, sich möglichst viele Merkmale der Täterin oder des Täters einprägen sowie den Handlungsablauf. Waffen oder Abwehrgeräte sollte man besser nicht einsetzen, da sie die Gewaltbereitschaft des Täters und seine Aggressivität steigern könnten.

Zivilcourage: 6 Regeln gelten für alle Zeugen

Die Polizei wirbt für Zivilcourage mit der Aktion „Tu was!“
Die Polizei wirbt für Zivilcourage mit der Aktion „Tu was!“ © Polizei | Maik Goering

Für Passanten, Zeugen und andere Beobachter gelten die sechs Regeln für Zivilcourage, wie sie die Polizei in der Aktion „Tu was!“ (www.aktion-tu-was.de) aufgestellt hat:

1. Hilf, aber bring dich nicht in Gefahr: Manchmal reiche es schon, wenn man laut auf den Täter einspricht oder man sich so auf ihn zu bewegt, um ihn einzuschüchtern oder von der Tat abzuhalten. Die räumliche Distanz zum Täter sollte gewahrt bleiben. Dem Opfer sollte zugerufen werden: „Kommen Sie her zu uns, wir helfen Ihnen!“

2. Rufe die Polizei: Notruf 110 so schnell wie möglich wählen. Je schneller die Polizei informiert wird, desto besser können die Täter ermittelt werden. Dabei die fünf Ws beachten: „Wer meldet, wo ist es passiert, was ist passiert, wie viele Personen sind beteiligt und sind Verletzte darunter, warte auf Rückfragen!“

3. Bitte andere um Hilfe: Warte nicht darauf, dass „schon irgendjemand irgendetwas unternehmen“ wird. Reagiere als Erste(r) – und mache andere gezielt auf die Situation aufmerksam.

4. Tätermerkmale einprägen: Wie groß ist der Täter/die Täterin? Welche Haarfarbe hat er oder sie? Wie war er oder sie bekleidet? Gibt es Besonderheiten? Welches Kennzeichen hatte das Fluchtauto? Jedes Detail kann wichtig sein. Oft sind es vermeintliche Nebensächlichkeiten, die am Ende den Ausschlag geben, dass ein Verbrechen aufgeklärt und der Täter überführt werden kann.

5. Kümmere dich um das Opfer: Helfen kann jeder – auch wenn man sich das im ersten Moment nicht zutraut.

6. Sag als Zeuge aus: Viele Täter kommen ohne Strafe davon, weil sich Zeugen nicht bei der Polizei melden. Sei es aus Angst, Zeitmangel oder einfach aus Bequemlichkeit. Die genaue Beschreibung des Geschehens und des Täters kann ausschlaggebend für die Überführung der Schuldigen sein.

Panik, wenn sie auf schwarze Männer trifft

Anna Grig hat nach jenem schrecklichen 24. März immer noch ziemliche Probleme bei der Bewältigung der Folgen. Es war eben nicht nur ein gescheiterter Überfall, bei dem sie noch nicht einmal ihre Tasche und Wertgegenstände verloren hat. An diesem 24. März ist viel mehr kaputtgegangen, als nur ihr Kopfhörer.

„Ich arbeite als Musiklehrerin an einer Schule in Norderstedt, ich unterrichte privat und bin berufstätige Musikerin. Das bedeutet, dass ich auf alle möglichen Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen treffe und ich mich weigere, Stereotypen zu verwenden oder nach dem Aussehen zu urteilen“, sagt Grig. Dass der Täter ganz offensichtlich ein Migrant war, habe sie gebrochen.

Sie ist selbst Migrantin in Deutschland, hat russische Wurzeln, und jetzt Gefühle zwischen Angst und Respekt, wenn sie großen, schwarzen Männern begegnet. „Es dauerte eine Weile, bis ich überhaupt in der Nähe eines Zuges oder eines schwarzen Mannes gehen konnte, ohne in Panik zu geraten. Ich hatte und habe definitiv noch viel mentale Arbeit vor mir, um das hinter mich zu bringen.“

Ohne Alarm geht sie nicht aus dem Haus

Grig lebte und studierte in mehreren Ländern. „Aus der Gefahrenperspektive würde ich sagen, dass vielleicht St. Petersburg, London und Ibrox bei Glasgow ganz oben auf der Liste stehen würden. Aber in Norderstedt war es das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist. Natürlich widerspricht es meiner gesamten Realität und meinem Glauben an Sicherheit.“

Die Musikerin sagt von sich, stärker zu sein als ihre Vorurteile. „Und das hat mich glücklicherweise nicht dazu gebracht, rassistisch zu werden oder endlose Angstanfälle zu bekommen.“ Aber sie habe nun viel weniger Vertrauen in Menschen, die sie nicht kenne. „Ich bin jetzt besser vorbereitet, habe einen Alarm bei mir. Und ich tue mein Möglichstes, um nicht zuzulassen, dass eine Person, die eine verrückte, dumme und völlig falsche Entscheidung getroffen hat, mir meine Lebendigkeit oder meine Persönlichkeit nimmt.“