Norderstedt. Angefahrene Katzen, halb verhungerte Hunde und siechende Wellensittiche: Eine ganze normale Nacht in der Tierklinik Norderstedt.
- Die Nachtschicht in der Tierklinik Norderstedt dauert zwölf Stunden lang. Die Notaufnahme ist voll.
- Ein Hund hat drei Holzspieße verschluckt und muss notoperiert werden.
- Auch die Tiermedizin ist von dem sogenannten „Kliniksterben“ bedroht. In Hamburg gibt es keine einzige Tierklinik mehr. Norderstedt ist die nächste Anlaufstelle.
Inzwischen ist es 1.10 Uhr in der Nacht. Draußen ist es stockdunkel. Doch der Operationssaal der Tierklinik Norderstedt ist taghell beleuchtet. Immer wieder dringt Christoph Andrijczuk mit einer langen Metallstange, an der vorne Kamera und Greifer befestigt sind, durch die Speiseröhre in den Magen eines Hundes ein. Der West Highland Terrier hat nicht nur heimlich das Fleisch dreier Grillfackeln gefressen – sondern die 20 Zentimeter langen Spieße aus Holz gleich mitverschlungen. In großer Panik ist seine Familie mit ihm spätabends in die Notaufnahme der Tierklinik gefahren.
Christoph Andrijczuk lag bereits im Bett, als sein Telefon klingelte. Geschlafen hat er noch nicht. Er hat sich gerade eine Serie bei Netflix angesehen. Der Chirurg hat heute Bereitschaftsdienst. In dringenden Fällen, wenn die OP nicht bis zum nächsten Morgen warten kann, wird er kontaktiert. „Diese Uhrzeit geht ja noch“, sagt der Tierarzt. Er trägt ein kariertes Hemd und Weste. Im Hintergrund läuft Musik im Radio. „Ab 3 oder 4 Uhr wird es erst schlimm.“ Der Eingriff mitten in der Nacht stellt seine Geduld dennoch auf die Probe.
Norderstedter Tierklinik: Chirurg findet überraschende Gegenstände in Hunden
Die Spieße sind in mehrere Teile zerbrochen. Jedes einzelne Stück muss Andrijczuk im Magen des Westies finden und entfernen. Auf einem Bildschirm kann er den Mageninhalt erkennen. Das Fleisch ist noch nicht verdaut. „Haben wir alle?“, fragt er. Tierärztin Nadja Spies, die extra da ist, um das Abendblatt durch die Nachtschicht zu begleiten, setzt die Holzspieße auf einem Beistelltisch zusammen. „Nein“, sagt sie und schüttelt den Kopf, „ein Stück fehlt noch.“ Wieder taucht der Chirurg in das narkotisierte Tier ein.
„Ich habe schon viel ungewöhnlichere Dinge aus Tieren herausgeholt“, sagt er und grinst. Für ihn ist der endoskopische Eingriff Routine. Auch nachts. „Ich hatte schon Hunde, die Reizunterwäsche oder ein ganzes Badehandtuch gefressen haben.“ Am eindringlichsten ist ihm aber dieser Fall in Erinnerung geblieben: „Da habe ich in einem Hund einen riesigen Dildo gefunden!“, sagt er, als könnte er es selbst nicht glauben.
Im Notdienst werden Tiere nach Dringlichkeit versorgt
Die letzte Schicht in der Tierklinik beginnt um 19.30 Uhr. Wie schon in der vergangenen Nacht hat Tierärztin Claudia Parada heute Dienst. In der Regel ist sie ab 21 Uhr mit einer Tiermedizinischen Fachangestellten (TFA) allein für den nächtlichen Notdienst verantwortlich. Egal, wie viele Patienten dann kommen – sie muss einen Fall nach dem anderen abarbeiten. Oder sich manchmal um alle gleichzeitig kümmern.
Je nach Dringlichkeit werden die Tiere versorgt. Denn klar ist auch: Wie in einer menschlichen Notaufnahme kommen viele Besitzer mit ihren Haustieren, die keine echten Notfälle sind. „Manche Tiere haben eine blutende Kralle, eine kleine Bisswunde oder eine Zecke. Das ist aber nicht lebensbedrohlich und muss nicht dringend behandelt werden“, sagt Tierärztin Nadja Spies.
Lage ist nicht automatisch lebensbedrohlich
Herrchen und Frauchen sehen das oftmals anders. „Während meines Notdienstes hat mal jemand über einen anderen Hund gesagt: ,Der stirbt doch eh! Warum müssen wir warten?‘“, erzählt Spies. Die Leute würden sehr unterschiedlich in Stresssituationen reagieren. Die stellvertretende Klinikleiterin empfiehlt Haltern, ihr Haustier genau zu beobachten. „Sie verbringen jeden Tag mit ihrem Tier. Sie wissen am besten, wenn es sich nicht normal verhält. Aber auch das heißt nicht automatisch, dass die Lage lebensbedrohlich ist.“
Claudia Parada verschafft sich einen Überblick auf der Intensivstation. Ein Jack Russell Terrier wimmert bitterlich. Eine TFA sitzt neben ihm in seiner Box, streichelt durch sein Fell und versucht ihn zu beruhigen. Vergeblich. „Er ist wie im Wahn. Er weiß nicht, wo er ist“, erklärt Nadja Spies. Der Hund wurde in der vergangenen Nacht mit einem Krampfanfall und Schaum vorm Maul aufgenommen. „Er hat einen Tumor an der Bauchspeicheldrüse. Der Hund entzuckert permanent und fängt dann an zu krampfen. Wir müssen ihm Zeit geben und schauen, was passiert.“
„Schädelhirntraumata bei Katzen sehen furchtbar aus“
Nach wenigen Minuten klingelt das Telefon von Tierärztin Claudia Parada. Ein Notfall. Besitzer stehen mit ihrer Katze am Empfang des Notdienstes. Das Tier wurde von einem Auto angefahren. Die 34-Jährige läuft mit strammen Schritten rüber in das benachbarte Gebäude am Kabel Stieg. Hier werden Notfälle hingebracht. Es ist kurz nach 20 Uhr.
Die Katze sieht schrecklich zugerichtet aus. Blut tropft aus ihrer Nase, der Kiefer ist in Rot getränkt. Doch am schlimmsten: Das linke Auge sticht hervor und erinnert an einen schlechten Horrorfilm. „Schädelhirntraumata bei Katzen sehen furchtbar aus“, sagt Nadja Spies. „Das Auge ist wahrscheinlich tot und muss rausgenommen werden. Aber das ist jetzt erst einmal nebensächlich.“
Verunfallte Katzen werden häufig in die Tierklinik gebracht
Claudia Parada legt dem verwundeten Tier einen Zugang am Bein. Es braucht dringend eine Infusion, um den Kreislauf zu stabilisieren, sowie Medikamente gegen die starken Schmerzen. In einer Sauerstoffbox soll sich die Katze von dem Schock erholen, ehe am nächsten Tag im CT untersucht wird, wie schlimm der Kiefer zertrümmert ist.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tierklinik sehen fast täglich verunfallte Katzen. „Sie haben leider nicht, wie immer gesagt wird, sieben Leben. Und sie können auch nicht aus jeder Höhe fallen und unbeschadet auf den Beinen landen“, sagt Spies. Katzen stürzen häufig aus Fenstern. Wenn sie gekippt sind, klemmen sich die Tiere manchmal ihre Hinterbeine ein. Im schlimmsten Fall unterbricht die Blutzufuhr und die Katzen sind gelähmt.
17 Patienten befinden sich in dieser Nacht auf der Station
Claudia Parada läuft über einen kurzen Weg an der frischen Luft zurück zur Station. Mit Müdigkeit hat sie noch nicht zu kämpfen. „Wir haben viel Kaffee hier“, sagt sie. Mit einer Tiermedizinerin, die tagsüber im Dienst war, spricht sie jeden einzelnen Patienten durch und macht sich auf einem Klemmbrett Notizen.
Der Jack Russell Terrier jault noch immer. In einer anderen Box sitzt Hannes. Der Border Terrier gehört zu Chefarzt Christian Magunna. Sein Vater Eberhard hat 1968 die Tierklinik in Norderstedt gegründet. Hannes wäre heute beinahe die Gallenblase gerissen. Sie musste in einer Not-OP entfernt werden. 17 Patienten befinden sich in dieser Nacht auf der Station.
Plötzlich steht Polizei vor der Tür – mit fast verhungertem Hund
Plötzlich steht die Polizei vor der Tür. Beamte bringen einen völlig abgemagerten und dehydrierten Hund in die Klinik. Das Tier wurde sichergestellt. Sein Herrchen muss ins Gefängnis. Den Grund dafür kennen die Klinikmitarbeiter nicht. Gekümmert hat der Mann sich jedenfalls schon lange nicht mehr um seinen Vierbeiner.
„Da ist nichts mehr dran“, sagt Nadja Spies, als sie dem Hund über die Rippen streicht. Er liegt auf dem Rücken. Den Ultraschall lässt er einfach über sich ergehen. Er hat keine Kraft, um sich zu wehren. Auf dem Bildschirm erkennt die Tierärztin einen großen Tumor an den Eierstöcken. „Der Hund befindet sich in einem extrem schlechten Zustand. Wenn es einen Hinweis auf Metastasen gäbe, könnten wir ihn einschläfern. Dann würde es für den armen kleinen Kerl keinen Sinn mehr machen“, sagt Spies.
Trauriges Schicksal: „Das tut mir in der Seele weh“
Auch wenn die Onkologie zu ihren Fachgebieten zählt und sie schon viele Tumore bei Tieren diagnostizieren musste, nimmt sie dieses Schicksal besonders mit. „Das tut mir in der Seele weh. Was steckt da für ein Leid hinter“, sagt sie. Die meisten Tiere mit einer schlechten Diagnose hätten wenigstens ein schönes, erfülltes Leben gehabt, meint Spies. „Aber dieser Hund hat sich übelst gequält. Er ist fast verhungert.“
Aufgeben möchte die Tiermedizinerin, die seit 2007 in der Tierklinik arbeitet, ihn aber noch nicht. Das Team versucht jeden Patienten zu retten – solange das Tierleben lebenswert ist. Der abgemagerte Vierbeiner wird auf die Intensivstation gebracht. Am nächsten Tag sollen weitere Untersuchungen folgen. Sie werden über das Schicksal des Hundes entscheiden.
In Schleswig-Holstein gibt es vier Tierkliniken – in Hamburg keine
In Schleswig-Holstein gibt es vier Tierkliniken, die 24 Stunden und sieben Tage die Woche geöffnet sind. In Hamburg existiert keine einzige mehr. Genau wie die Humanmedizin bedroht das „Kliniksterben“ auch die Tiermedizin. „Viele Tierkliniken haben es einfach nicht mehr geschafft, einen dauerhaften Betrieb aufrechtzuerhalten“, sagt Spies. Personal fehlt. Viele Nachwuchskräfte möchten nicht mehr im Schichtsystem arbeiten.
Auf die Notaufnahme in Norderstedt ist der Ansturm deshalb groß. Für viele Hamburger ist die Klinik an der Stadtgrenze die erste Anlaufstelle. Regionale Notdienste wurden eingerichtet, um eine Überlastung zu verhindern. Tierarztpraxen in Hamburg schieben abwechselnd Nachtschichten und sind vor allem dafür zuständig, ungefährlichere Fälle zu versorgen und von der Klinik fernzuhalten.
„Wir fühlen uns von Hamburg oft alleine gelassen“
Akute Notfälle schicken sie nach Norderstedt. Doch dieses Prinzip funktioniert nicht immer. Viele Haustierbesitzer begeben sich auf direktem Weg in die Notaufnahme. Das empfiehlt die Klinik allerdings nur bei wirklichen Notlagen wie etwa Vergiftungen, Magendrehungen oder Unfällen.
Ein großes Problem: Häufig unterstützen die regionalen Notdienste die Tierklinik nicht ausreichend, wie Nadja Spies berichtet. „Wir fühlen uns von Hamburg oft alleine gelassen“, sagt sie. Immer wieder würden Halterinnen und Halter berichten, dass sie niemanden in der angegebenen Praxis erreicht hätten. „Einige verzweifeln an der umständlichen Bandansage. Häufig werden sie auch direkt telefonisch weiter in die Klinik geschickt, ohne dass das Tier gesehen wurde“, sagt Spies. Das Kliniksterben schreite voran, weil die Unterstützung der niedergelassenen Kollegen in einigen Gegenden fehlt, sagt die Tiermedizinerin. „Leider vor allem in Hamburg.“
Wartezimmer in der Norderstedter Tierklinik füllt sich
Das Wartezimmer füllt sich. Es ist 22.30 Uhr. Der Westie, der die Grillspieße verschluckt hat, liegt zu diesem Zeitpunkt noch neben seiner Familie auf einer Bank. Als Claudia Parada den Hund gemeinsam mit ihrer TFA ins Behandlungszimmer trägt, fängt ein Mädchen an zu weinen. Ein Mann, vermutlich ihr Vater, schließt sie in die Arme. Stundenlang harren die Besitzer in schrecklicher Sorge um ihr Familienmitglied in der Klinik aus.
Eine Frau ist mit ihrem Assistenzhund Kiki extra aus Hamburg-Ottensen angereist. „In Norderstedt ist die Klinik am besten. Wir fühlen uns hier super aufgehoben“, sagt sie. Kiki hat zuhause stark gehechelt. Auch ihr Bauch fühlt sich angespannt an. „Sie ist mein Ein und Alles. Ich möchte das lieber abchecken lassen, sonst bekomme ich heute Nacht kein Auge zu“, sagt die Hundebesitzerin. Zwei Stunden verstreichen. Doch die Frau wartet geduldig.
Mann verlässt mit totem Wellensittich Klinik
Im benachbarten Katzenwartezimmer verlieren die Halterinnen und Halter langsam die Nerven. Sie tigern auf und ab, füllen Wasser am Automaten nach, brühen sich einen Kaffee. Ihre Katze hat sich am Ballen verletzt. Dann betritt ein junger Mann mit einer kleinen Transportbox aus Kunststoff das Gebäude am Kabel Stieg. Der Wellensittich seiner Schwester liegt im Sterben. Es dauert nicht lange, dann kümmert sich die Tierärztin um den kranken Vogel.
Der Mann wartet, dann wird er in den Behandlungsraum gebeten. Er möchte dabei sein, wenn das Tier eingeschläfert wird. Das macht er vor allem seiner Schwester zuliebe. Sie ist gerade verreist. Kurze Zeit später kehrt er zurück – ohne Wellensittich. Er setzt sich auf die Bank. Wieder wartet er. Mischlingshündin Kiki kommt rüber zum Trösten, lässt sich streicheln. Kurz nach Mitternacht verlässt der Mann die Notaufnahme. In seiner Transportbox liegt nun ein toter Vogel.
Behandlungen kosten während des Notdienstes das Dreifache
Inzwischen liegt der etwas zu gierig gewesene Westie bei Chirurg Christoph Andrijczuk auf dem OP-Tisch. Die mühsame Suche nach den verschluckten Holzspießen beginnt. Die Besitzer der Katze mit dem verletzten Pfötchen verlassen währenddessen die Klinik. Sie haben keine Lust mehr zu warten.
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Wer eine Behandlung außerhalb der Sprechzeiten ab 18 Uhr sowie am Wochenende ganztags in Anspruch nimmt, muss mehr zahlen. Ungefähr das dreifache kostet der Einsatz im Notdienst. Hinzu kommt eine Pauschale von 50 Euro. Nur so kann sich die Tierklinik finanzieren. „Die Medizin ist aufwendiger geworden, die Geräte sind irrsinnig teuer. Die Menschen wollen die beste Diagnostik für ihr Tier, aber die kostet eben auch“, sagt Nadja Spies. Außerdem müssen rund um die Uhr Tierärzte und TFA’s vor Ort sein.
Tierklinik Norderstedt: Nachtschicht dauert zwölf Stunden
Gegen 1 Uhr lässt der Andrang in der Notaufnahme nach. Claudia Parada hat nun Zeit, um auf der Station nach den Patienten zu sehen. Das macht sie jede Stunde, weil sich einige Tiere in einem kritischen Zustand befinden. „Mein Stresslevel ist in Ordnung“, sagt die junge Tierärztin. Wie anstrengend eine Nachtschicht sei, hänge nicht nur von der Anzahl der Tiere ab – sondern auch von der Art der Notfälle. „Manchmal kommen in der Nacht nur vier Patienten, aber die sind trotzdem sehr zeitaufwendig“, sagt sie.
Enorm wichtig sei es, mit den Tiermedizinischen Fachangestellten gut zu harmonieren. „Wenn man ein eingespieltes Team ist, läuft es in der Regel auch sehr gut.“
Bis 6 Uhr morgens ist es ruhig. Eine zwölf Jahre alte Hündin mit vereiterter Gebärmutter ist die letzte Patientin, die Parada während ihrer Schicht stationär aufnimmt. „Die Nacht war okay“, sagt sie. Nach etwa zwölf Stunden, gegen kurz nach 8 Uhr, verlässt sie die Tierklinik. Die Sonne ist aufgegangen. Die Vögel singen. Viele ihrer Kollegen fangen nun an zu arbeiten. Sie fährt mit der Bahn nach Hause. Dann fällt sie ins Bett.