Norderstedt. 1984 gewann Rafael Nickel Gold. Heute kommen Tierbesitzer aus aller Welt zu ihm. Sogar ein Staatsoberhaupt wollte seinen Rat.

Rafael Nickel sitzt im Besprechungsraum im ersten Stock der Norderstedter Tierklinik. Der Geschäftsführer und Chefarzt hat sich mittags extra Zeit genommen, um sich mit dem Abendblatt zu treffen. Um 14 Uhr hat er den nächsten Termin, dann beginnt seine Sprechstunde. An manchen Tagen kommen Menschen mit ihren Haustieren aus ganz Deutschland und reisen sogar aus dem Ausland an, um ihre Vierbeiner von Nickel behandeln zu lassen.

„Einmal hat mich der Präsident von Slowenien angerufen, um sich eine zweite Meinung für seinen kranken Hund einzuholen. Das ist jetzt ein paar Jahre her“, berichtet Nickel und lächelt. Als er das Telefonat entgegennahm, habe er mit einem Präsidenten von irgendeinem kleinen, slowenischen Verein gerechnet – aber nicht mit dem Staatsoberhaupt. „Das war ganz lustig“, sagt der 64-Jährige und schmunzelt.

Tierklinik Norderstedt: Rafael Nickel hat zehn Jahre in Utrecht geforscht

Nickel ist zurückhaltend, spricht mit ruhiger Stimme. Mit seinen Leistungen, die er für die Tiermedizin erbracht hat, prahlt er nicht. Stolz ist er trotzdem auf sie. Der gebürtige Hamburger ist Experte für Harnwegsprobleme. Auf diesem Spezialgebiet hat er zehn Jahre lang an der Universität im niederländischen Utrecht geforscht. Dort entwickelte er eine spezielle „Schlaufentechnik“, mit der er Tieren, die an einer Inkontinenz litten, ihre Lebensqualität zurückgeben konnte.

Nickel lebte damals gemeinsam mit seiner Frau Christina Becker, die er im Tiermedizin-Studium in Hannover kennengelernt hatte, in den Niederlanden. Sie arbeitete dort als Pferdeärztin. Als das Paar Anfang 30 war, stelle es sich eine Frage, die sein weiteres Leben massiv verändern konnte: Möchten wir Kinder haben – oder darauf verzichten?

„Wir haben uns für Kinder entschieden“, sagt Nickel. Doch als seine Frau schwanger wurde, verlor sie ihre befristete Arbeitsstelle. „Der damalige Chef hielt es nicht für nötig, dass Frauen Kinder bekommen und nebenbei arbeiten. Sie sollten sich entscheiden. Das ist inzwischen Gott sei Dank anders – aber damals hat es meine Frau ihre Laufbahn gekostet.“

1997 stieg Nickel in der Tierklinik in Norderstedt ein

Das Paar kehrte zurück nach Hamburg, näher zur Familie. Doch in seiner Heimatstadt fühlte sich Rafael Nickel plötzlich orientierungslos. Er wusste nicht, wie es für ihn weitergehen sollte. Wo er arbeiten wollte. Davon berichtete er auch Eberhard Magunna, der die Tierklinik in Norderstedt 1968 gegründet hatte, und dessen Sohn Christian. „Ich hatte nach dem Studium schon bei Magunnas hospitiert und sie später oft bei Veranstaltungen getroffen und mich sehr gut mit Vater und Sohn verstanden. Als ich ihnen erzählt habe, dass ich nicht wüsste, wohin ich gehen sollte, sagten sie beide im Chor: ,Dann komm doch zu uns.‘“

1997 stieg Rafael Nickel schließlich in der Tierklinik ein, 1998 wurde er Teilhaber. Fortan forschte er nicht mehr, sondern untersuchte und operierte Kleintiere. Der Tiermediziner trug dazu bei, dass die Klinik mit immer moderneren Geräten ausgestattet wurde, weiterwuchs und heute mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. „Aus menschlicher Sicht war es toll, in das Familienunternehmen der Magunnas einzusteigen. Aber die Umstellung, nicht mehr an der Uni als Spezialist zu forschen, sondern plötzlich im Praxisbetrieb zu arbeiten, war am Anfang ganz schön schwierig für mich“, gibt Nickel zu.

Angehender Tierarzt schaffte es 1984 zu Olympischen Spielen nach Los Angeles

Irgendwann fand er Frieden mit seiner Entscheidung – und wurde zu einem renommierten und über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Tierchirurgen. Wenn der zweifache Familienvater etwas angeht, dann mit vollem Herzen und Einsatz. Halbherzige Sachen passen nicht zu ihm. In seinem Leben gab es neben der Tiermedizin noch eine zweite große Leidenschaft: den Sport. Die Liebe zum Fechten, sein Ehrgeiz und Talent haben ihn 1984 bis zu den Olympischen Spielen nach Los Angeles gebracht.

Während seines Studiums pendelte Nickel zwischen Hannover und Tauberbischofsheim in Baden-Württemberg, wo sich das Bundesleistungszentrum befand. Fast fünf Stunden Fahrzeit mit dem Auto trennen beide Orte voneinander. „Für mich war das viel Fahrerei. Aber als man so jung war, war es nicht schlimm.“

Nickel gewann mit der deutschen Mannschaft Gold im Fechten

Mit 25 Jahren beendete er sein Studium. Während der Olympiavorbereitung begann er, seine Doktorarbeit zu schreiben. Wenige Monate später flog er in die USA. Nach Los Angeles. Zu den Olympischen Spielen. „Man fühlte sich wie auf einer Wolke dort. Die Atmosphäre war spektakulär“, schwärmt Nickel. Er redet gern darüber. „Das war ein sehr, sehr beeindruckendes Erlebnis, das sich nicht mit anderen vergleichen lässt.“

In den 80er-Jahren ist Rafael Nickel ständig zwischen seiner Hochschule in Hannover und dem Bundesleistungszentrum in Tauberbischofsheim gependelt.
In den 80er-Jahren ist Rafael Nickel ständig zwischen seiner Hochschule in Hannover und dem Bundesleistungszentrum in Tauberbischofsheim gependelt. © Privat

Gemeinsam mit der deutschen Mannschaft gewann der angehende Tierarzt Gold im Fechten. Rafael Nickel, der bei seiner ersten Hamburger Meisterschaft im Alter von zehn Jahren noch ausgelacht wurde, weil er das Fechten beim Theater und nicht in einem richtigen Verein gelernt hatte. Schon damals brachte er die Menschen zum Schweigen, indem er prompt Schülermeister wurde.

Im kommenden Jahr liegt der Olympiasieg gegen Frankreich 40 Jahre zurück. Und trotzdem zehrt Nickel noch immer von ihm. Wenn er von dieser Zeit spricht, strahlen seine Augen. Unvergessen bleiben die Momente, als ihm und seinen Teamkollegen in den hellblauen Trainingsanzügen die Goldmedaillen um die Hälse gehängt wurden und sie die Nationalhymne sangen.

40 Jahre nach Olympiasieg kommen immer noch Autogrammanfragen

Noch heute bekommt er von Sammlern Autogrammanfragen. „Inzwischen habe ich meine Karten fast verbraucht. Jetzt ist Schluss“, sagt Nickel und lacht. Seine Autogrammkarten stammen noch aus dem Jahr 1984. Mit dem Fechtsport hat er schon lange aufgehört. Heute fährt er nur noch Fahrrad. „Das ist das Einzige, das meine Knie noch zulassen. So viel Sport in der Jugend hat seine Folgen“, sagt er. Nach dem Fechten spielte er Squash, lief Halbmarathon und surfte. „Es ist in mir drinnen, dass ich mich immer körperlich betätigen muss, um ein bisschen erschöpft zu sein.“

Rafael Nickel (r.) hat 1984 mit der deutschen Mannschaft die Goldmedaille im Fechten bei den Olympischen Spielen in Los Angeles gewonnen.
Rafael Nickel (r.) hat 1984 mit der deutschen Mannschaft die Goldmedaille im Fechten bei den Olympischen Spielen in Los Angeles gewonnen. © Privat

Zwei volle Tage sowie im Notdienst am Wochenende steht Rafael Nickel im Operationssaal der Tierklinik. Der Rest der Woche ist mit Sprechstunden aufgefüllt. Für Harnwegspatienten ist er immer noch Spezialist. Doch inzwischen führt er immer mehr Eingriffe bei Tieren durch, die unter Atemwegsproblemen leiden. „Ich muss viele, arme Französische Bulldoggen operieren. Das tut mir sehr leid“, sagt der Chefarzt.

„Es gibt Tage da liegen nur Französische Bulldoggen im OP“

Die Hunderasse mit ihren großen Kulleraugen ist nach wie vor sehr beliebt bei Menschen – obwohl längst bekannt ist, dass die Tiere unter etlichen gesundheitlichen Problemen leiden. Sie sind ins Extreme gezüchtet. Durch ihre verkürzten Nasen und zu engen Nasenlöcher bekommen sie meistens nur schwer Luft. Die Tierärzteschaft hätte viel versucht, über das Leid der Tiere aufzuklären und Einfluss auf Zuchtverbände zu nehmen, sagt Rafael Nickel. „Aber Tierärzte haben keine Lobby.“

Wenn die Hunde zwischen ein und zwei Jahre alt seien, würden die Besitzer sie in die Tierklinik bringen, um sie „zurecht montieren“ zu lassen, erzählt Nickel. „Es gibt Tage, da liegen nur Französische Bulldoggen im OP.“ Der Tiermediziner rät, gut über die Wahl der Rasse eines Haustieres nachzudenken. „Es bedeutet eine Menge Leid für das Tier und sich selbst. Im Prinzip ist es traurig, dass diese Hunde immer weiter gezüchtet werden, obwohl so viel an ihnen gemacht werden muss, damit sie eine gute Lebensqualität haben. Das ist einfach nicht vernünftig.“

Bei Nickel lebt ein Labradoodle zu Hause – die 16,5 Jahre alte Holly. „Sie ist ein Glücksfall“, sagt das Herrchen. „Sie hatte fast keine Krankheiten in ihrem Leben und ist nun eine liebe, nette Oma.“

Orang-Utan-Dame aus dem Zoo Hagenbeck war in Tierklinik zu Gast

Eine schöne Abwechslung im Klinikalltag ist für den Geschäftsführer, wenn sich der Zoo Hagenbeck meldet. „Da helfe ich immer gerne mit. Neulich habe ich Paviane endoskopisch sterilisiert“, berichtet er. Für solche Eingriffe fährt er in den Tierpark. Die Tiere werden nur in die Klinik transportiert, wenn es wirklich notwendig ist. Zum Beispiel wenn Aufnahmen mit dem CT-Gerät gemacht werden müssen. „Zuletzt war eine alte Orang-Utan-Dame bei uns, die inzwischen leider verstorben ist. Da sie mehr Mensch als Tier war, ist damals ein humanmedizinischer Radiologe zu uns gekommen.“

Rafael Nickel hat selbst überlegt, Arzt für Menschen anstatt für Tiere zu werden. „Schon zu Schulzeiten hatte ich großes Interesse an Medizin. Damals fühlte ich mich allerdings noch nicht reif genug, um Menschen zu behandeln. Ich hatte Angst, nicht gut genug zu sein.“ Also entschied er sich für die Tiermedizin.

Tierklinik Norderstedt: Rafael Nickel schwankte zwischen Tier- und Humanmedizin

Noch einmal ins Schwanken geriet er während seiner Zeit an der Universität in Utrecht. Damals hospitierte er in der Kinderchirurgie. „Da durfte ich mitoperieren. Das war schon toll. Aber es wäre schade gewesen, alles, was ich vorher in der Tiermedizin erarbeitet hatte, einfach aufzugeben.“

Die Menschen, die für eine Behandlung bei Rafael Nickel mit ihren geliebten Haustieren von überall nach Norderstedt kommen, werden ihm dankbar sein für diese Entscheidung.

Serie: Das Abendblatt begleitet und porträtiert mit der Tierklinik Norderstedt eine der größten und bekanntesten des Nordens. Lesen Sie demnächst eine weitere Folge.