Norderstedt. Viele Besitzer unterschätzen die Ernährung. Warum das richtige Futter lebensverlängernd sein kann – und das falsche tödlich.
Das Thema gesunde Ernährung ist allgegenwärtig. Viele Menschen belesen sich, schauen Ratgeber-Sendungen wie die Ernährungs-Docs im Fernsehen und setzen sich immer genauer damit auseinander, welche Lebensmittel auf ihren Tellern landen.
Wie existenziell wichtig das richtige Futter auch für die Gesundheit ihrer geliebten Vierbeiner ist, unterschätzen Frauchen und Herrchen allerdings oft. „Unserer Erfahrung nach ernähren etwa 80 Prozent ihr Haustier nicht optimal. Das machen Besitzer nicht aus böser Absicht, sondern sie wissen es einfach nicht besser“, sagt Nadine Becker.
Tierklinik Norderstedt: Expertin – Gut 80 Prozent der Haustiere werden falsch ernährt
Die Tiermedizinische Fachangestellte (TFA) bietet seit 20 Jahren Ernährungsberatungen an, davon seit 16 Jahren in der Tierklinik Norderstedt. Das Thema werde von Halterinnen und Haltern „extrem unterschätzt“, sagt sie. „Mit der richtigen Ernährung kann das Tier gesünder und somit auch älter werden. Auch für kranke Hunde und Katzen kann man noch so viel Lebensqualität und Zeit herausholen.“
Nadine Becker hat dieses Feuer in sich, das Menschen ausstrahlen, wenn sie für etwas brennen. „Ich liebe meinen Job“, sagt die 40-Jährige. „Ich gehe jeden Tag gern zur Arbeit.“ Die Worte glaubt man ihr sofort, wenn man ihr breites Lächeln und die Leidenschaft in ihren Augen sieht, mit der sie über ihren Beruf spricht. „Ich liebe Tiere über alles. Ich versuche, jede Seele aufzufangen. Auch vermeintlich ,böse‘ Hunde und Katzen lassen sich behandeln, wenn man nur richtig mit ihnen umgeht.“
„Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Nadine Becker über Tierklinik und Team
Ihre Ausbildung zur TFA hat sie im Alter von 16 Jahren in einer kleinen Praxis in Hamburg absolviert. Schon damals faszinierte sie der Bereich Ernährung. Seitdem besucht sie jedes Jahr mehrere Fortbildungen. 2006 wechselte sie in die Tierklinik nach Norderstedt. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen offiziellen Ansprechpartner für Ernährungsberatungen.
„Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Nadine Becker über die Klinik und das Team, das sie dort kennen und lieben lernte. Die Chefetage hat ihr freie Hand gelassen und sie unterstützt, ihr Wissen über die richtige Ernährung für Tiere auszubauen. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie bietet sie als einzige TFA in ganz Deutschland eine medizinische Ernährungsberatung per Telemedizin an.
Ernährungsberatung in der Tierklinik kostet rund 50 Euro
Termine können telefonisch oder per E-Mail vereinbart werden. Becker blockt sich dann den Besprechungsraum im ersten Stock der Tierklinik. Dort steht ein Computer mit Kamera in der Ecke. „Hier habe ich die nötige Ruhe für eine gute Beratung“, sagt sie.
In der Regel dauert eine digitale Beratung zwischen 30 und 45 Minuten und kostet um die 50 Euro. „Das ist eine ganz fantastische Alternative, um sich weite Wege zu sparen“, sagt Becker. Natürlich kann man sich von ihr aber auch persönlich vor Ort in der Klinik beraten lassen.
Die Mutter einer Tochter geht auf jedes Tier ganz individuell ein. Es lässt sich nicht pauschalisieren, welches Futter grundsätzlich gut und welches schlecht ist. Das ist abhängig von der Rasse, dem Alter und der Bewegungsintensität des Vierbeiners.
„Ich kann meinem Hund noch so ein gutes Premiumfutter geben. Wenn er eine Niereninsuffizienz hat und der Proteingehalt des Futters zu hoch ist, ist das nicht gut für ihn und lässt im schlimmsten Fall die Erkrankung schneller voranschreiten.“
Expertin rät: Hunde sollten dreimal im Leben Ernährungsberatung wahrnehmen
Becker rät Hundehaltern, dreimal im Leben des Tieres eine Ernährungsberatung wahrzunehmen: Wenn der Hund noch Welpe ist. Wenn er den Übergang zum Erwachsenenalter erreicht hat. Und wenn er Senior wird. In allen Lebensphasen braucht das Tier unterschiedliche Nahrung.
Nur weil ein Labrador sein ganzes Leben lang das gleiche Nassfutter gefressen hat, bedeutet das noch lange nicht, dass es für ihn auch im hohen Alter geeignet ist. „Ein Senior sollte Futter mit weniger Fett und einem reduzierten Proteingehalt bekommen, um Gelenke und Nieren zu schonen“, erklärt Becker.
Viele Tierbesitzer lassen sich erst dann beraten, wenn das Tier krank ist
Der TFA ist es wichtig, zu betonen, dass es ihr um die Gesundheit des Tieres geht – und nicht darum, irgendwelche Marken zu verkaufen. „Ich möchte, dass der Besitzer sein Haustier so lange wie möglich bei sich hat. Wir wollen Gesundheit für das Tier – und keine Produkte verkaufen. Wir sprechen Empfehlungen aus“, sagt Nadine Becker.
Inzwischen arbeitet sie hauptsächlich an der Rezeption der Tierklinik, ist Ausbildungsbeauftragte und übernimmt Verwaltungsaufgaben. Ernährungsberatungen führt sie im Durchschnitt nur ein- bis zweimal im Monat durch.
„Leider nehmen Tierbesitzer meist erst eine Ernährungsberatung in Anspruch, wenn bei dem Tier eine chronische Erkrankung diagnostiziert wurde und klar wird, dass ein normales Futtermittel nicht mehr die richtige Wahl ist“, sagt Becker. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist die Ernährungsberatung eine Herzensangelegenheit für sie. Dafür nimmt sie sich extra Zeit.
Hundewelpe bekam Glasknochen durch falsche Fütterung
An der geringen Anzahl der Beratungen ist jedoch zu erkennen, dass dieser so wichtige Aspekt noch nicht annähernd in der breiten Masse der Tierhalterinnen und -halter angekommen ist. Die richtige Ernährung kann lebensverlängernd sein – die falsche tödlich, wie Nadine Becker selbst miterleben musste.
Der Vorfall, den sie schildert, liegt schon einige Jahre zurück. Vergessen wird sie ihn wohl nie. Hundehalter brachten ihren vier Monate alten West Highland White Terrier in die Tierklinik. Mit wackeligen O-Beinen stand der Welpe auf dem Behandlungstisch. Die Besitzer hatten ihrem jungen „Westie“ ausschließlich Frischfleisch gefüttert, nachdem er nicht mehr von seiner Mutter gesäugt worden war. Die fatale Folge: Er entwickelte Glasknochen.
Warum Calcium in der Wachstumsphase so wichtig ist
„Phosphor und Calcium müssen sich im Körper die Waage halten“, erklärt die Ernährungsexpertin. Weil aber der Phosphor-Anteil durch das viele Fleisch extrem anstieg, konnte nicht genügend Calcium in die Knochen eingelagert werden, um sie zu stabilisieren. Das so wichtige Mineral fehlte in den Knochen des Hundes. „Es kann ein lebensbedrohliches Ungleichgewicht entstehen, wenn man kein Welpenfutter verwendet“, mahnt Nadine Becker.
Die Besitzer standen vor einer schweren Entscheidung: Dem Welpen hätten in mehreren Operationen alle vier Beine gebrochen werden müssen, um die massive Fehlstellung zu korrigieren. Doch in der Wachstumsphase hätte dies zu neuen, womöglich noch schlimmeren Problemen geführt.
Am Ende mussten die Besitzer das kleine Tier schweren Herzens einschläfern
Hinzu kam: Der Welpe hätte über mehrere Monate ruhig gehalten werden müssen, da immer nur ein Bein zur Zeit operiert werden kann. Der Calciummangel konnte auch durch spezielles Futter oder Medikamente nicht mehr aufgeholt werden.
Am Ende entschieden sich die Besitzer schweren Herzens, ihren Hund einschläfern zu lassen. „Das war furchtbar. Aber Tiermedizin bedeutet auch, Tieren Leid zu ersparen“, sagt Becker. „Ich habe schon viel gesehen. Aber dieser Fall war sehr emotional und traurig für mich.“
Mit der richtigen Ernährung können Krankheiten vorgebeugt werden
Wenn die Ernährungsberaterin spazieren geht und am Straßenrand Kothaufen liegen sieht, kann sie meist anhand der Färbung sehen, welches Hundefutter das Tier bekommen hat oder ob eine Erkrankung vorliegt.
„Es gibt eine bestimmte Futtermarke, die den Kot rötlich einfärbt“, sagt sie. „Ist die Farbe eher gelblich, kann die Bauchspeicheldrüse erkrankt sein.“ Immer wieder würden ihr Freunde und Bekannte Fotos von den Ausscheidungen ihrer Haustiere auf ihr Handy schicken und nach ihrer Einschätzung fragen, berichtet Nadine Becker und lacht.
„Die richtige Ernährung ist die einfachste Präventionsmaßnahme gegen Krankheiten – ganz ohne Medikamente“, sagt Sarah Gimm. Die 27-Jährige arbeitet seit dreieinhalb Jahren als TFA in der Tierklinik. Im Dezember vergangenen Jahres hat sie eine große Fortbildung begonnen und unterstützt Nadine Becker als Ernährungsberaterin. „Ich wünsche mir für die Tiere, dass viel mehr Beratungen durchgeführt würden“, sagt sie. „Häufig erkennen Besitzer erst die Notwendigkeit zum Handeln, wenn ihr Haustier bereits erkrankt ist.“
Wenn Krankheit vorliegt, braucht das Tier ein „maßgeschneidertes Produkt“
Wenn eine Krankheit vorliegt, braucht der Vierbeiner ein „maßgeschneidertes Produkt“, betont Nadine Becker. „Der Halter sollte nicht einfach in den Futterhandel marschieren und Tiernahrung kaufen, auf der das Label ,gut für die Niere‘ steht.“ Eine ausführliche Beratung ist notwendig.
Für eine nierenkranke Katze sollte das Futter beispielsweise einen niedrigen Protein- und Phosphorgehalt haben, trotzdem aber sehr schmackhaft sein. „Nieren filtern Giftstoffe. Funktionieren sie nicht richtig, ist der Katze oft permanent schlecht. So als hätte ein Mensch ein paar Gläser Wein zu viel getrunken und nicht vertragen“, erklärt die Expertin. Deswegen müssen auch hochwertige Fette beinhaltet sein, damit das Tier das Futter überhaupt fresse.
Bei Allergien spielt Stress eine enorm große Rolle – auch bei Tieren
Ist die Bauchspeicheldrüse erkrankt, ist ein geringer Fett-, aber ein erhöhter Rohfaseranteil wichtig. Bei Allergikern sollten Haustierbesitzer generell darauf achten, welches Protein in der Nahrung enthalten ist. „Es sollte nur eine Fleisch- beziehungsweise Proteinquelle verarbeitet sein“, erklärt Becker. Das heißt, im Futter des Hundes oder der Katze sollten zum Beispiel nicht Schwein und Rind gleichzeitig verwertet sein.
Bei Allergien, die sich mit Magen-Darm-Problemen äußern, spielt zudem das Thema Stress eine enorm große Rolle. „In meinen Ernährungsberatungen von Magen-Darm-Patienten ist mittlerweile die Mehrzahl der Symptome auf Stress zurückzuführen“, sagt Nadine Becker.
Hunde, die aus dem Ausland nach Deutschland geholt wurden, seien wegen ihrer häufig unschönen Vergangenheit besonders oft betroffen. „Stress reizt Darm und Magen. Nicht immer helfen Medikamente.“ Die Empfehlung der Expertin: In speziellen Futtermitteln werde der gleiche beruhigende Stoff verwendet, den die Vierbeiner auch beim Trinken der Muttermilch aufnehmen. Das reduziere den Stress, erklärt Becker.
Viele Haustiere sind es gewohnt, zu bestimmten Uhrzeiten Fressen zu bekommen
Die meisten Hunde und Katzen sind es gewohnt, zu bestimmten Uhrzeiten ihr Fressen von Frauchen und Herrchen serviert zu bekommen. Natürlich stehen die Tiere auch am Wochenende, wenn die Besitzer länger schlafen möchten, zur gleichen Uhrzeit schwanzwedelnd neben dem Bett oder kratzend vor der Schlafzimmertür. Ihre innere Uhr sagt ihnen, dass Essenszeit ist. So wurde es ihnen beigebracht.
Feste Futterzeiten seien aber in den meisten Fällen gar nicht notwendig, sagt Sarah Gimm. Mit bestimmten, antrainierten Gewohnheiten können Besitzer ihre Haustiere sogar richtig verziehen. Nadine Becker erzählt von einem eindrucksvollen Beispiel. Es hat sich vor vielen Jahren ereignet, als sie noch in der Praxis in Hamburg gearbeitet hat. Das Bild einer mit ihrer Katze vollkommen überforderten Frau hat sich bei ihr eingebrannt.
Als die Katze anderes Futter bekam, ging sie auf die Besitzerin los
„Eine Dame ist zu uns gekommen und riss plötzlich ihren Rock hoch“, berichtet Becker. Zunächst seien alle verwundert gewesen. Dann aber hätten sie die zerkratzten und zerbissenen Beine der Frau gesehen. „Sie hat geweint. Sie dachte, sie müsste ihre Katze einschläfern“, erzählt sie.
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Im Gespräch hätte sich dann aber herausgestellt, dass die Dame ihrem Tier oft frischen Thunfisch und Krabben vom Markt mitgebracht hat. „Wenn die Katze mal anderes Fressen bekommen hat, ist sie so aggressiv geworden, dass sie auf ihre Besitzerin losgegangen ist. Dieses Verhalten wurde ihr anerzogen. Viele Besitzer lassen sich von ihrem Tier beherrschen.“
Tierklinik Norderstedt: „Mein Haustier ist dem Essen ausgesetzt, das ich ihm gebe“
Die meisten Menschen wollen nur das Beste für ihr Tier. Das weiß Nadine Becker nur zu gut. Sie ist selbst Hundemutter eines 14 Jahre alten Whippets namens Uma. „Haustiere sind dem Futter ausgesetzt, das der Tierhalter für richtig und gut hält“, sagt sie. „Bei der Ernährung kann man ganz viel falsch – aber auch ganz viel richtig machen.“
Serie: Das Abendblatt begleitet und porträtiert in den kommenden Wochen mit der Tierklinik Norderstedt eine der größten und bekanntesten des Nordens. Lesen Sie demnächst eine weitere Folge.