Norderstedt. Am fünften Prozesstag um den Skandal-Müllberg werden erschreckende Details bekannt. Geologe war ein halbes Jahr lang krank.

Der fünfte Prozesstag des Norderstedter Müllberg-Skandals brachte neue und zum Teil schockierende Erkenntnisse. Am Freitagvormittag saß erneut Ingo Ratajczak als Zeuge in Saal F des Amtsgerichts Norderstedt. Der Diplom-Geologe hatte 2020 ein Gutachten rund um die Abfallmengen auf dem ehemaligen Gieschen-Areal in Friedrichsgabe angefertigt. Ein halbes Jahr lang hatte er auf dem Gelände geforscht, wie groß die Gefahr für Mensch und Umwelt ist, die von den dort gelagerten Stoffen ausgeht.

Was für Auswirkungen künstliche Mineralfasern und Asbest auf den menschlichen Körper haben können, bekam Ratajczak offenbar am eigenen Leib zu spüren. „Ich habe mir eine Lungenentzündung eingefangen“, berichtete er vor Gericht. „Ich war danach ein halbes Jahr lang krank.“ Natürlich könne er nicht mit Gewissheit sagen, dass seine Arbeiten am Müllberg zu der Erkrankung geführt hätten. Kurz vorher erklärte er Richter Jan Willem Buchert allerdings noch, dass das Einatmen von feinen Fasern „alle möglichen Krankheiten“ wie etwa Lungenentzündungen und Krebs auslösen könne.

Müllberg Norderstedt: Fasern und Asbest – Gutachter erkrankte an Lungenentzündung

Als mutmaßlicher Verursacher des Abfallbergs ist der frühere Betreiber der Gieschen Containerdienst GmbH angeklagt. Der 61-Jährige muss sich unter anderem wegen des unerlaubten Umgangs mit Abfällen in einem besonders schweren Fall verantworten. Als die Staatsanwaltschaft Ingo Ratajczaks Aussagen hörte, vermutete sie allerdings noch einen weiteren Tatbestand: Durch den vor sich hinrottenden Müll könnte der Angeklagte die Gesundheit einer großen Anzahl von Menschen gefährdet haben – wie etwa der Mitarbeiter der anliegenden Autorecycling-Firma Kiesow und deren Kunden.

Der ehemalige Betreiber der Gieschen Containerdienst GmbH muss sich wegen des 15.000 Kubikmeter großen Müllbergs in Norderstedt vor dem Amtsgericht verantworten.
Der ehemalige Betreiber der Gieschen Containerdienst GmbH muss sich wegen des 15.000 Kubikmeter großen Müllbergs in Norderstedt vor dem Amtsgericht verantworten. © Annabell Behrmann | Annabell Behrmann

Richter Buchert und seine beiden Schöffinnen hielten es jedoch für „unwahrscheinlich“, die Tat dem Angeklagten ebenfalls anlasten zu können. Eine Gesundheitsgefährdung sei reine „Vermutung“, Luftmessungen wären nicht durchgeführt worden. Der Wind wehe zudem eher in die andere Richtung, zum benachbarten Gelände von Delta Fleisch.

Müllberg-Prozess: Angeklagtem droht mehrjährige Haftstrafe

Diplom-Geologe Ratajczak wurde beim vorigen Verhandlungstermin vom Gericht beauftragt, ein weiteres Gutachten zu erstellen. Anhand von Luftaufnahmen sollte er aussagen, wie sich das Müllvolumen von 2015 bis 2019 entwickelt hat. Zum Hintergrund: Die ersten zwei Jahre davon war noch die Tochter des Angeklagten für die Transport- und Entsorgungsfirma verantwortlich. Bis 2017 leitete sie die Geschäfte, ehe ihr Vater den Betrieb wieder übernahm. Sie war ebenfalls angeklagt – hat sich jedoch mit 11.000 Euro „aus dem Prozess frei gekauft“. Ihrem Vater droht weiterhin eine mehrjährige Haftstrafe.

Aufgebaut hat das Unternehmen wiederum der Vater des Angeklagten. Als dieser unerwartet in den 90er-Jahren verstarb, erbte sein Sohn das Geschäft. Nach nur eineinhalb Jahren trieb er die Firma in die Insolvenz. Mit dem Vorhaben, den übrig gebliebenen Müllberg zu entsorgen, startete die Ehefrau kurz darauf einen neuen Versuch. Doch unter ihrer Führung sammelten sich noch mehr Abfälle an – ehe auch sie 2015 verstarb und der Angeklagte wieder die Geschäfte führen musste.

2015 bis 2019: Rund 2300 Kubikmeter Müll sollen dazugekommen sein

Gutachter Ratajczak kam zu dem Ergebnis, dass von 2015 bis 2019 rund 2300 Kubikmeter Müll hinzugekommen sind. Für diese Menge – von insgesamt 15.000 Kubikmetern – soll der Angeklagte verantwortlich sein. Das Gericht wollte zudem wissen, wie viel der ehemalige Betreiber wohl mit den angenommenen Abfällen, die er eigentlich hätte entsorgen müssen, verdient hat. Geht man davon aus, dass er für jeden Kubikmeter 50 Euro erhalten hat, wie ein weiterer als Zeuge geladener Experte vor Gericht schätzte, hätte er in fünf Jahren 115.000 Euro eingenommen – gerade einmal 23.000 Euro im Jahr.

Während des Prozesses nannten Gutachter immer wieder unterschiedliche Kosten für die Räumung des Müllbergs. So viel steht schon jetzt fest: Das Land wird für sie aufkommen – mit Steuergeldern. Bisher waren Summen von 1,2 bis 3,8 Millionen Euro im Umlauf. Sachverständiger Hans-Ulrich Mücke schätzte die Entsorgungskosten nun auf 4,2 Millionen Euro, da die Preise im kommenden Jahr erheblich ansteigen würden.

Rechtsanwalt führte tragische Lebensgeschichte weiter aus

Zudem müsse die Räumung unter aufwendigen Sicherheitsvorkehrungen erfolgen, um die beteiligten Arbeiter sowie umliegenden Menschen zu schützen. Ursprünglich ist Mücke davon ausgegangen, dass der Müllberg innerhalb von 75 Tagen á zehn Arbeitsstunden beseitigt werden könnte. Inzwischen stellt er in Frage, ob eine Abtragung wirklich so schnell möglich wäre. Die Räumung soll vermutlich im Sommer 2023 beginnen.

Rechtsanwalt Wolfgang Höwing versuchte unterdessen, seinen Mandanten weiter zu entlasten. Bereits am zweiten Prozesstag erzählte er vor Gericht dessen tragische Lebensgeschichte und zeichnete das Bild eines überforderten Mannes. „Wir wollen Transparenz schaffen“, sagte Höwing und gab erneut tiefe Einblicke in das Leben des aus Nahe stammenden, ehemaligen Geschäftsführers. Ende 2018 hätte er auf der Straße gelebt und teilweise im LKW übernachtet, mit dem er sonst Müll abfuhr. „Über Wasser hat er sich gehalten, indem er Flaschen sammelte.“

Müllberg Norderstedt: Gericht will am nächsten Prozesstag Urteil fällen

Im Oktober 2019 habe ihn seine Tochter aufgegriffen und mit zu sich nach Spanien genommen. „Sie konnte ihn aber nicht beherbergen.“ Deswegen habe er am Strand geschlafen. Irgendwann sei er bei einer deutschen Familie untergekommen und habe 600 Euro brutto verdient – womit genau, ließ Höwing offen. Dort habe er eine kranke Frau gepflegt.

„Im Juni 2021 ist er dann zurück nach Deutschland gekehrt“, berichtet der Anwalt weiter. Sein Mandant habe Kontakt zur Kanzlei aufgenommen, wollte seine Angelegenheiten zuhause regeln. Wegen der „massiven psychischen Belastung“ hätte er sich in psychiatrische Behandlung begeben – auch jetzt. Der Prozess sei „schwierig“ für ihn.

Am nächsten Verhandlungstag (9. Dezember, 9.30 Uhr) will das Gericht nach den Abschlussplädoyers ein Urteil fällen.