Norderstedt. Der Anwalt des mutmaßlichen Verursachers des Norderstedter Müllbergs erklärte vor Gericht, wie es so weit kommen konnte.
Der zweite Prozesstag um den Verantwortlichen für den Norderstedter Müllberg-Skandal brachte tiefe Einblicke in das offenbar prekäre Leben des 61-jährigen Angeklagten. Der Tag begann aber mit einem Paukenschlag.
Denn zum Auftakt platzte der Deal zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft, der bereits vor dem ersten Prozesstag per Videokonferenz ausgehandelt worden war. Wenn der Angeklagte umfassend aussage, so der Deal, werde er maximal zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Müllberg Norderstedt: Überfordert, obdachlos – Lebensbeichte des Angeklagten
Doch dem stimmten die beiden Schöffinnen neben Richter Jan Willem Buchert nicht zu. „Deswegen können wir keine verbindliche Zusage geben, was die Strafobergrenze angeht“, sagte der Richter. Nun droht dem Angeklagten nach wie vor eine mehrjährige Haftstrafe – je nach Verlauf des Prozesses. Der wurde auf sechs Verhandlungstage angesetzt.
Der 61-jährige Angeklagte war der Betreiber der Gieschen Containerdienst GmbH in Norderstedt. Ihm wird der unerlaubte Umgang mit Abfällen und das unerlaubte Betreiben von Anlagen jeweils in einem besonders schweren Fall vorgeworfen. Konkret soll er über Jahre auf seinem früheren Grundstück am Umspannwerk in Friedrichsgabe etliche Tonnen Abfall angenommen haben – ohne sie wie vorgeschrieben wieder abzutransportieren. Entstanden ist ein 15.000 Kubikmeter umfassender Müllberg, der in der Spitze etwa sechs Meter misst, und aus teils gefährlichen Stoffen wie Asbest besteht.
Deal geplatzt – mehrjährige Haftstrafe im Müllberg-Prozess weiterhin möglich
Von den Behörden verhängte Zwangsgelder wurden nicht bezahlt. Die angeordnete Räumung nicht vollzogen. 2017 riss der Kontakt zum Geschäftsführer der Entsorgungsfirma ab. Jahrelang galt er als untergetaucht. Die Öffentlichkeit beschäftigte seitdem eine Reihe von Fragen: Wie konnte es soweit kommen? Warum hat der Betreiber derart die Kontrolle über seine Geschäfte verloren? Und wo hat er sich die ganze Zeit aufgehalten? In Norderstedt wurde wild spekuliert. Macht sich da vielleicht einer mit den Einnahmen ein schönes Leben im Süden und verschwendet keinen Gedanken mehr an den Müllberg, den er der Allgemeinheit vor die Füße warf?
Dass es offenbar ganz anders war, das versuchte sein Verteidiger am Freitag vor Gericht klarzustellen. Denn trotz des geplatzten Deals gab Rechtsanwalt Wolfgang Höwing eine Erklärung für den Angeklagten ab. Dafür holte Höwing in seinen Erzählungen weit aus, eine regelrechte Lebensbeichte. Gezeichnet wurde das Bild eines gebrochenen, vollkommen überforderten Mannes. Als Höwing die traurige Lebensgeschichte des Angeklagten skizzierte, senkte dieser den Kopf, den Blick starr geradeaus auf den schweren Holztisch gerichtet, an dem er saß. Er selbst äußerte sich nur unwesentlich im Prozess.
Überforderung, psychischer Zusammenbruch und Obdachlosigkeit
Der Angeklagte habe einen Hauptschulabschluss gemacht und sei nach seiner Ausbildung zum Autoschlosser in den Betrieb seines Vaters eingestiegen. Dort fuhr er Lastwagen und sortierte den Müll, den er in Containern zuvor abgeholt hatte.
In den 90er-Jahren sei es dann zu einer „Zäsur“ im Leben des Angeklagten gekommen. „Sein Vater ist überraschend mit 67 Jahren gestorben.“ Es habe keine Nachfolgeregelung gegeben. „Ohne adäquaten Abschluss und Einblick in den Betrieb ist der Angeklagte als Erbe in die Situation hineingefallen“, sagte Höwing.
Nach eineinhalb Jahren habe das Unternehmen unter seiner Führung Insolvenz anmelden müssen. Laut Rechtsanwalt sei zum einen die mangelnde Qualifikation des Angeklagten schuld gewesen, zum anderen die bestehenden Altlasten des Unternehmens. Als das Insolvenzverfahren durch war, stellte sich weiterhin die Frage: Was passiert mit dem Müll auf dem Grundstück, das immer noch der Familie gehörte?
Norderstedt: Tochter half – doch Müllberg wuchs weiter
Die Familie habe sich externe Hilfe geholt. „Schließlich fasste die Ehefrau des Angeklagten den Beschluss, ein Gewerbe anzumelden und den Betrieb weiterzuführen“, so Höwing. Der Angeklagte sei wieder Lkw gefahren. Man hätte versucht, die Altlasten loszuwerden. „Dann kam es zur zweiten Zäsur. Die Ehefrau erkrankte an Krebs und verstarb.“
Die „ordnende Kraft“, wie zuvor schon der Vater, sei verloren gegangen. Die Tochter des Angeklagten habe daraufhin ihre Hilfe angeboten und die Geschäfte übernommen. Das war 2015. Sie sei zu diesem Zeitpunkt noch Studentin gewesen. Sie habe ihrem Vater gezeigt, wie man Rechnungen schreibe, und die Gespräche mit den Behörden geführt. Die Probleme aber blieben. Die Abfallberge wuchsen weiter. Der Betrieb sei nicht wirtschaftlich gewesen. „2017 hat die Tochter gesagt, dass der Angeklagte eine andere Lösung finden müsse“, erklärte Höwing. Sie stieg aus der Firma aus. Ihr Vater stand erneut alleine da.
Angeklagter soll körperlichen und psychischen Zusammenbruch gehabt haben
Ein Kunde einer Baufirma soll ihm später angeboten haben, das Grundstück zu kaufen und den Müll zu entsorgen. Dieser wollte, so Höwing, auf dem 5000 Quadratmeter großen Gelände einen Lagerplatz und eine Waschstraße aufbauen, der Angeklagte hätte bei ihm arbeiten dürfen – das Vorhaben sei allerdings nicht genehmigt worden. Die Vereinbarung platzte.
„Ende 2018 hatte der Angeklagte einen vollkommenen körperlichen und psychischen Zusammenbruch“, berichtete Rechtsanwalt Höwing. „Ab diesem Zeitpunkt war er obdachlos.“ Er habe Sozialleistungen beantragt und auf der Straße gelebt. „Um seinen Betrieb konnte er sich nicht mehr kümmern.“
Vermeintlicher Müllberg-Verursacher lebt von Witwenrente und Harz IV
Nach einiger Zeit sei er von seiner Tochter und einer weiteren Person aufgefunden worden. Diese hätte ihm ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Nun lebe er von einer Witwenrente in Höhe von 388 Euro und Hartz IV. Er habe sich psychologische Hilfe gesucht. „Heute sind seine Einkommensverhältnisse bescheiden, aber er führt ein geordnetes und stabilisiertes Leben“, sagte Höwing und beendete seine Rede.
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Endlich bekam die Öffentlichkeit eine Erklärung – wenn auch nicht vom vermeintlichen Verursacher des Müllbergs selbst. Trotzdem blieben viele Fragen offen: Wann genau verlor er die Kontrolle über sein Grundstück? Warum hat er sich nicht früher Hilfe geholt? Hätten die Behörden noch weiter einschreiten müssen? Was ist mit dem Geld passiert, dass er für das Annehmen des Mülls kassiert hat?
Müllberg Norderstedt: 2023 soll die Räumung beginnen
Das Land will im kommenden Jahr mit der Räumung des Müllbergs beginnen. Die Kosten werden auf rund 3,8 Millionen Euro geschätzt – und Stand jetzt vom Steuerzahler getragen. Das Umweltministerium kündigte aber bereits an, „alle zur Verfügung stehenden Mittel“ zu ergreifen, um eine Kostenerstattung durch den Verursacher zu erreichen. Zunächst gelte die Konzentration des Landes aber der „zügigen und ordnungsgemäßen Räumung des Grundstücks“, wie eine Sprecherin mitteilte. „Erst nach Abschluss der Räumung kann die genaue Bezifferung der tatsächlich angefallenen Kosten erfolgen.“ Und erst dann würde es zu einer weiteren Gerichtsverhandlung kommen.
Zunächst wird der Strafprozess am kommenden Mittwoch, 9. November, fortgesetzt. Dann soll unter anderem das vermüllte Grundstück gemeinsam begangen und mithilfe einer Drohne von oben betrachtet werden.