Nahe. Verursacher des größten Umweltskandals in der Stadtgeschichte bleiben verschwunden. Doch ein Nachbar will die Tochter gesehen haben.
An der Wakendorfer Straße in Nahe steht ein neu gebautes Einfamilienhaus mit rot-brauner Fassade. In den Fenstern klebt noch Plastikfolie. Zwar hängt im Eingangsbereich schon ein Briefkasten, doch der Neubau ist noch unbewohnt. In der kleinen Gemeinde sind einige neue Häuser in den vergangenen Jahren entstanden, eigentlich ist das keine Besonderheit – wenn das Haus nicht auf dem einstigen Grundstück der Familie Gieschen stehen würde.
Norderstedt: 15.000 Kubikmeter großer Müllberg
Die Familie ist inzwischen weit über die Gemeindegrenzen hinaus bekannt. Über viele Jahrzehnte hat sie eine Containerdienst-Firma betrieben und ihr Geld damit verdient, den Müll von Privatleuten und Unternehmen abzutransportieren und zu entsorgen. Doch als der Sohn das Unternehmen von seinem Vater übernommen hat, ist das Geschäft außer Kontrolle geraten. Auf einem Grundstück in Norderstedt lagern mittlerweile 15.000 Kubikmeter Müll – der Geschäftsführer hat immer mehr Bauschutt und asbesthaltige Abfälle angenommen, ohne sie wieder abzutragen.
Kurzzeitig hat seine Tochter die Geschäfte weitergeführt, doch der Zustand der vermüllten Fläche verbesserte sich auf lange Sicht nicht. Ihr Vater kehrte zurück an die Spitze des Unternehmens, machte weiter wie zuvor – und dann verschwand die Familie eines Tages spurlos. Im Jahr 2017 riss der Kontakt zu den Behörden ab. Seitdem rotten die Müllberge in Norderstedt vor sich hin.
Viele waren überrascht, als die Staatsanwaltschaft im März dieses Jahres bekanntgab, Anklage erhoben zu haben. Noch im vergangenen Jahr hat ein Anwalt der Familie Kontakt aufgenommen. Beschuldigt werden der 61 Jahre alte Geschäftsführer sowie die 29 Jahre alte Tochter, die zwischenzeitlich die Geschäfte übernommen hatte.
Ihnen wird der unerlaubte Umgang mit Abfällen und das unerlaubte Betreiben von Anlagen jeweils in einem besonders schweren Fall vorgeworfen. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft. Sie müssen sich vor dem Amtsgericht in Norderstedt verantworten – das Verfahren ist noch nicht eröffnet. Die überregional tätige Anwalts- und Steuerkanzlei GHB soll die Gieschens vertreten. Die Kanzlei, die ihre Standorte rund um und in Magdeburg hat, wollte sich auf Nachfrage des Abendblattes nicht zu dem Fall äußern.
Norderstedt: Rätsel um die Familie Gieschen
Die Tochter ist seitdem wieder in Nahe gesehen worden. Sie soll gemeinsam mit ihrem spanischen Mann, mit dem sie im Ausland leben soll, im vergangenen Sommer für mehrere Wochen im alten Haus der Familie gearbeitet haben. Das berichtet ein Nachbar. Das Anwesen der Familie befindet sich nur sechs Meter entfernt von dem Neubau an der Wakendorfer Straße. Eine Fensterscheibe ist eingeschlagen. Die Räume sehen unbewohnt aus. Eine Zufahrt gibt es nicht mehr. Die Tochter soll den gesamten vorderen Teil des Grundstücks verkauft haben, sagt der Nachbar. Ein Makler sei mit mehreren Interessenten vor Ort gewesen.
„Man erzählt sich Geschichten im Dorf, dass Herr Gieschen gesehen worden ist. Das kann ich aber nicht bestätigen“, erzählt der Nachbar weiter. Ohne Zufahrt scheint es kaum vorstellbar, dass das große Haus der Familie jemals wieder bewohnt wird. „Ich bin nur froh, dass er die ganzen Container noch weggeschafft hat, kurz bevor er verschwunden ist.“ Auch auf dem Wohngrundstück in Nahe sollen zwölf große, mit Müll beladene Container gestanden haben. Teilweise soll der Betreiber des Abfallzwischenlagers sie einfach in der Gemeinde auf der Straße abgestellt haben.
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Norderstedt: Räumung des Müllbergs kostet schätzungsweise 3,8 Millionen Euro
Dass nun ein Neubau auf dem ehemaligen Gieschen-Grundstück in Nahe steht, ist dem Land bekannt. „Der Sachverhalt ist uns nicht neu“, sagt Martin Schmidt, Sprecher des Landesamtes für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume in Schleswig-Holstein. Der Verkauf habe aber keine Auswirkungen auf den Fortgang in Bezug auf das Norderstedter Müllgrundstück. „Die Tochter von Herrn Gieschen ist nicht die Eigentümerin des Grundstücks. Sie steht auch in keinem Zusammenhang mit der insolventen GmbH“, erklärt Schmidt. Es gab mehrere Insolvenzverfahren gegen die Firma. Das letzte wurde 2019 eröffnet und gilt als abgeschlossen.
Trotzdem hinterlässt der Grundstücksverkauf in Nahe bei einigen einen faden Beigeschmack. Die Räumung der Müllberge in Norderstedt kostet schätzungsweise 3,8 Millionen Euro. Das Land will für die Kosten aufkommen und den Abfall abräumen lassen – mit Steuergeldern. Dafür hat das Umweltministerium einen Deal mit der Stadt Norderstedt ausgehandelt: Die Stadt muss das Grundstück ersteigern und anschließend verkaufen, um mit dem Erlös die teure Räumung zu finanzieren.
Die Zwangsversteigerung fand vor gut zwei Wochen statt – allerdings hat ein ominöser Bieter ein höheres Gebot als die Stadt abgegeben. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dieses aber abgelehnt werden, da sich der Unbekannte, der sich als Jagtar Singh zu erkennen gab, nicht ausweisen konnte. Ein Ergebnis wird am morgigen Freitag, 6. Mai, in Saal C des Amtsgerichts Norderstedt erwartet.