3000 Tonnen des belasteten Futters lieferte die Firma Harles und Jentzsch aus. Grenzwerte in den Proben weit überschritten.

Kiel. Das wahre Ausmaß des Skandals wird gerade erst bekannt: Rund 3000 Tonnen des mit Dioxin belasteten Futtermittels wurden an Betriebe in mehreren Bundesländern ausgeliefert. Das Futterfett kam von der Firma Harles und Jentzsch aus dem schleswig-holsteinischen Uetersen. Doch damit nicht genug: Wie sich jetzt herausstellte, überschreiten die festgestellten Werte in den Proben den zulässigen Dioxin-Höchstwert um das 77-fache. Die Werte von zehn weiteren Proben reichten von 0,66 bis 58,17 Nanogramm, wie das schleswig-holsteinische Landwirtschaftsministerium am Freitag in Kiel mitteilte. Der zulässige Grenzwert von 0,75 Nanogramm wurde in weiteren neun Fällen überstiegen.

Bereits von den ersten 20 untersuchten Proben hatten neun zu hohe Werte aufgewiesen. Insgesamt hatte das Ministerium 118 Proben aus eingangs- und Ausgangsware von Harles und Jentzsch sichergestellt. Von den bislang 30 untersuchten Proben lagen nur 12 unterhalb des Gremzwertes. Die restlichen Ergebnisse werden in den kommenden Tagen erwartet.

In Schleswig-Holstein bezogen nach derzeitigem Stand 61 Landwirte verseuchtes Futter. Zudem haben 22 weitere Betriebe möglicherweise belastetes Futter von einem niedersächsischen Händler bezogen. Dabei soll es sich überwiegend um Schweinemastbetriebe handeln.

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Dioxin-Fette schon länger in Tierfutter

Es begann alles schon viel früher: Bereits im März wurden Industriefette mit überhöhten Dioxinwerten für Futter verarbeitet. Eine Meldung unterblieb. Politiker sprechen von kriminellem Verhalten; Bauern sind wütend, Verbraucher verzichten auf Eier. Vertuschung, illegale Produktion, Betriebsräumung wegen verdächtiger Post – der Dioxinskandal eskaliert weiter. So wurden belastete Industriefette schon deutlich länger zu Tierfutter verarbeitet worden als bisher bekannt. Dies bestätigte das Landwirtschaftsministerium in Kiel am Freitag.

Bereits im März 2010 seien bei Eigenkontrollen der Firma Harles und Jentzsch aus Uetersen erhöhte Dioxinwerte festgestellt worden, sagte ein Sprecher. Sie seien maximal doppelt so hoch gewesen wie zulässig. „Das hätte sofort gemeldet werden müssen“, sagte Ministeriumssprecher Christian Seyfert. Weil die Meldung ausblieb, habe das Ministerium Strafanzeige gestellt. Dies geschah am 4. Januar dieses Jahres. Gegen das Unternehmen ermittelt die Staatsanwaltschaft Itzehoe wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Lebens- und Futtermittelrecht. Auch wenn der Höchstwert im Endprodukt durch die Verdünnung bei der Futterherstellung im März wohl unterschritten wurde, hätten die Fette nicht verwendet werden dürfen, sagte der Ministeriumssprecher. Die Firma wollte sich unter Hinweis auf das Ermittlungsverfahren nicht äußern. Woher die Dioxine selbst stammen, ist weiter unklar. Harles und Jentzsch hatte am 23. Dezember die Behörden telefonisch über einen höheren Wert informiert, am 27. Dezember dann schriftlich; am 29. schließlich entnahm das Landeslabor Proben. Die am Freitag bekanntgegebenen aktuellen Werte waren teils erheblich höher als die der März-Proben: Es war bis zu knapp 78 Mal so viel Dioxin enthalten wie erlaubt, teilte das Kieler Agrarministerium mit. In neun von zehn Fällen war die Belastung zu hoch. Das ergaben Laboruntersuchungen von weiteren Proben. Bis Oktober gab es zwei weitere Fälle, die von der Firma hätten gemeldet werden müssen. Wie viele Futtermittel seit März unter Verwendung von Fetten mit überhöhten Dioxinwerten ausgeliefert wurden, sei noch nicht bekannt.

Es müssen Hunderte Proben ausgewertet werden, die mindestens bis Juni zurückgehen. Die Firmen sind verpflichtet, Proben sechs Monate lang aufzubewahren. Die Staatsanwaltschaft arbeitet mit Hochdruck an der Auswertung von Lieferscheinen und Rechnungen. „Dies wird nicht Tage dauern, sondern Wochen“, sagte Oberstaatsanwalt Ralph Döpper. Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) sagte der dpa: „Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass das verantwortliche Unternehmen bereits seit Monaten von der Dioxin-Belastung wusste und trotzdem nicht die zuständigen Landesbehörden informiert hat, ist das hochgradig kriminell und völlig unverantwortlich.“ Auch Niedersachsens Agrarministerium sieht „kriminelle Machenschaften“. Staatssekretär Friedrich-Otto Ripke sagte, die Firmen wollten möglichst viel Gewinn erzielen. Technische Fette sind viel billiger als Stoffe für Futter. Die Spedition Lübbe in Bösel habe zudem keine Genehmigung zur Futtermittelherstellung gehabt, sondern sei seit 2005 nur als Transporteur gemeldet gewesen, sagte Ripke. „Dahinter vermuten wir Vorsatz.“ Nach bisherigen Erkenntnissen des Kieler Ministeriums sind alle kritischen Futterfett-Partien in Bösel von dem Partnerbetrieb von Harles und Jentzsch gemischt worden. Die Spedition betreibt dort auch eine Futterfett-Rührstation. Im Handelsregister sind als Geschäftszweck nur „der gewerbliche Kraftverkehr und die Spedition“ eingetragen.

Der Betrieb selbst äußerte sich dazu bislang nicht. Bisher mussten bundesweit über 4700 Betriebe wegen Dioxinverdachts gesperrt werden, ganz überwiegend in Niedersachsen. Viele Verbraucher lassen Eier in den Regalen liegen. Ein Absatzrückgang sei „deutlich spürbar“, sagte Margit Beck von der Marktberichterstattungsstelle MEG. Bundesministerin Aigner sagte: „Das Bundesinstitut für Risikobewertung sieht beim gelegentlichen Verzehr belasteter Produkte keine akute Gesundheitsgefahr. Aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes muss allerdings die Belastung mit Dioxinen so weit wie möglich minimiert werden“. Bizarre Begleiterscheinung des Skandals: Der Betrieb in Uetersen wurde am Freitag geräumt, weil verdächtige anonyme Post eingetroffen war. Ein Sprengstoffkommando rückte an und fand alte Wurstscheiben und Würstchen. Die Kieler Landwirtschaftsministerin Juliane Rumpf (CDU) besuchte unterdessen in Schlamersdorf (Kreis Stormarn) einen vom Dioxin-Skandal betroffenen Landwirt. Bauer Walter Babbe darf derzeit 500 seiner Schweine nicht schlachten. Der Schaden für die Landwirtschaft sei immens, sagte er. Ministerin Rumpf sagte, sie halte das System der Eigenkontrolle der Futtermittelhersteller generell für tragfähig. Die Landwirte in Niedersachsen wollen Schadensersatz von den Herstellern der verseuchten Futtermittel. Die Haftung eines jeden Anbieters werde geprüft, sagte Bauernverbandspräsident Werner Hilse. Die derzeit 25 erfassten Lieferanten müssten möglicherweise in Vorleistung gehen, ehe der Produzent belangt werden könne. In Niedersachsen wurden bislang 100 000 Eier vernichtet. Von 38 getesteten Proben zeigten fünf Bestände erhöhte Dioxin-Werte.

(dapd/dpa)