Über Harles und Jentzsch gelangte dioxinbelastetes Fett in die Nahrung. Der Stoff, über den ganz Deutschland redet, stammt aus Uetersen.
Uetersen. Das Werkstor ist geschlossen. Die Zufahrt zum Besucherparkplatz ebenfalls. Es könnte eigentlich keine bessere Szenerie für die Firma Harles und Jentzsch geben, weil auch noch Nebel um das Gelände aufgestiegen ist. Die Mitarbeiter haben sich gestern in die Gebäude an der Deichstraße 25a zurückgezogen. Ab und zu geht einer von ihnen über den Hof. Reden möchte keiner von ihnen. Am Morgen hatte sich beim Anruf in der Firma noch eine freundliche Dame gemeldet. "Alle sind in einer Besprechung. Rufen Sie in einer Stunde wieder an." Doch nach einer Stunde dauert die Besprechung immer noch an. Auch nach zwei Stunden, nach drei. Firmenchef Siegfried Sievert ist nicht zu sprechen.
Zehntausende Tonnen Tiernahrung könnten verseucht worden sein
Der Stoff, über den ganz Deutschland redet, ist aus einer Stadt gekommen, die nicht einmal 40 Kilometer von Hamburg entfernt ist und knapp 19 000 Einwohner hat: aus Uetersen im Kreis Pinneberg. Tonnenweise dioxinbelastetes Fett gelangte von der Firma Harles und Jentzsch zu Futtermittelproduzenten und von dort in Futtertröge von Legehennen, Mastgeflügel und Schweinen. Zehntausende Tonnen Tiernahrung könnten Schätzungen zufolge mit dem krebserregenden Umweltgift verseucht sein.
Am Mittwoch wurden die Räume von Harles und Jentzsch in Uetersen und eines Partnerbetriebs im niedersächsischen Bösel von der Staatsanwaltschaft durchsucht, Akten beschlagnahmt, die Ermittlungen laufen. Sievert hatte von Leichtfertigkeit gesprochen, als der Skandal öffentlich wurde, später von menschlichem Versagen. Doch die Behörden glauben ihm nicht. Von kriminellen Machenschaften ist die Rede.
Die Nachbarn wollen nicht viel zu Harles und Jentzsch sagen. "Das sind nette Leute", sagt ein Rentner, der seit über 70 Jahren nebenan wohnt. Seit 1994 ist Harles und Jentzsch auf dem Gelände. Und ein anderer Nachbar berichtet, dass er viele der Beschäftigten in der Firma kenne. "Die sind am Boden zerstört. Das sind doch ganz einfache Leute, die da mit den Fetten arbeiten."
Am Mittwoch hat der Vertriebschef der Firma von einer drohenden Insolvenz gesprochen. Firmenchef Sievert hat dann über die Deutsche Presseagentur dementieren lassen: "Es ist nicht so. Wir arbeiten weiter", sagte er. Es werde zwar kein Futtermittel mehr verkauft. Das Geschäft mit technischen Fetten sichere jedoch die Existenz der Firma.
Auf dem Parkplatz steht ein dunkelblauer Maserati. Es würde gut ins Bild passen, wenn die Luxuskarosse Sievert gehören würde, wie es schon berichtet wurde. Aber die Nachbarn schwören, dass das Auto einem anderen Unternehmer gehört, der sich in dem Bürogebäude eingemietet hätte.
Sievert selbst hat Drohungen bekommen. Mitarbeiter sollen laut "Westfalen-Blatt" am Telefon als "Mörder" beschimpft und unter anderem mit den Worten "Wir machen euch fertig" bedroht worden sein. Am Mittwoch hängten aufgebrachte Menschen ein Transparent vor das Werkstor: "Ihr vergiftet uns" stand darauf.
Hans-Henning Eckardt steigt aus seinem Auto. Er ist in die Deichstraße gekommen, weil ihn der Skandal so betroffen macht. "Ich bin so enttäuscht von denen", sagt der Rentner aus Uetersen. "Wenn die das bewusst gemacht haben, sollte man denen die Hammelbeine lang ziehen." Eckardt sagt, dass er zwei Enkelkinder habe und dass es ihm wichtig sei, dass die Lebensmittel seiner Enkel sicher seien. Er schaut auf das Werksgelände und schüttelt den Kopf. Auf dem Gelände wird ein Lastwagen der Spedition Lübbe beladen - jener Partnerfirma aus Bösel, die auch von der Staatsanwaltschaft durchsucht worden ist. Der Betrieb scheint in der Tat weiterzulaufen. Mittlerweile geht in der Firma keiner mehr ans Telefon.
Andrea Hansen geht an ihr Telefon. Und sie lädt auch in ihr neues Büro im vierten Stock. Hansen ist seit April 2009 Bürgermeisterin von Uetersen. Am Wochenende will sie ihren Neujahrsempfang geben. Ihre Rede war fertig, dann kam das Dioxin. Jetzt muss sie ihre Rede umschreiben. "Wir sind wütend und entsetzt", sagt die 52 Jahre alte SPD-Politikerin. "Es ist einfach nur schrecklich." Bislang kannte man Uetersen für das Rosarium, Norddeutschlands größten Rosengarten. "Wir sind eine Hochzeitsstadt, wir trauen rund um die Uhr", sagt die Bürgermeisterin stolz. Zu Silvester haben 27 Paare in Uetersen geheiratet, sogar aus Berlin kamen sie. "Wir hatten so viel vor", sagt Hansen verbittert. "Wir wollten viel tun für Bildung, für Krippenplätze - und dann kommt das." Das Image von Uetersen ist erst einmal dahin.
Bürgermeisterin plädiert für mehr Kontrolle und neue Gesetze
Doch Hansen will dem Ganzen auch Positives abgewinnen: Es soll etwas unternommen werden für die Gesundheit der Menschen und die Qualität der Lebensmittel. Mehr Kontrollen, neue Gesetze, ein verändertes Einkaufsverhalten - "auch dies sollte sich verbinden mit dem Namen Uetersen", sagt die zweifache Mutter. Ihr jüngster Sohn ist 13, mit ihm will sie über Dioxin sprechen, schließlich sei ihre Schwägerin an Krebs gestorben, das sei dem Jungen noch vor Augen.
Am späten Nachmittag geht bei Harles und Jentzsch doch noch ein Mitarbeiter ans Telefon. Firmenchef Sievert will nichts sagen, erklärt der Mann. Sievert habe seiner Ankündigung, nichts hinzuzufügen: der Ankündigung, dass die Firma weitermachen will.