Gülzow/Büchen/Kuddewörde. Wählergemeinschaften laufen CDU, SPD und Co. in Kommunen den Rang ab. Persönliche Kompetenz wichtiger als Parteibuch.
Wer bei dem Begriff Wählergemeinschaften allein an Baden-Württemberg und Bayern denkt, liegt falsch. Hier spielen sie zwar seit Jahrzehnten eine besondere Rolle in der Kommunalpolitik. Inzwischen haben jedoch derartige Zusammenschlüsse auch im Norden das Sagen in immer mehr Gemeinden. Die Gründe für den Bedeutungsverlust der Parteien sind vielfältig.
In vielen Orten im Kreis Herzogtum Lauenburg ist es den Parteien schwergefallen, ausreichend Kandidaten für die am 14. Mai anstehenden Kommunalwahlen aufzustellen. Eine Folge sind Zusammenschlüsse zu Wählervereinigungen wie zuletzt in der 1300-Einwohner-Gemeinde Gülzow im Amt Schwarzenbek-Land. Außer in Städten und großen Orten wie Wentorf mit rund 13.500 Einwohnern spielen nur noch in wenigen Gemeindevertretungen Mitglieder von CDU und SPD, von Grünen, FDP oder der Linken eine Rolle.
Kommunalwahl: CDU- und SPD-Mitglieder bilden gemeinsam Wählergemeinschaft
Im Falle Gülzow waren es nicht unzufriedene Politiker oder Bürger, die die Unabhängige Wählergemeinschaft Gülzow gegründet haben. Im zwischen Geesthacht, Schwarzenbek und Lauenburg liegenden Ort haben Vertreter und Anhänger von SPD und CDU kürzlich entschieden, auf eigene Listen zu verzichten. Engagierte Kommunalpolitiker, mit und ohne Parteibuch, gründeten die UWG. Tenor: Kommunalpolitik sei nicht durch Parteienstreit geprägt, sondern durch die gemeinsame Suche nach dem besten Weg.
Anders die Situation in Büchen, das rund 6500 Einwohner hat. SPD und CDU stellen hier weiter eigene Kandidaten. Allerdings haben die erst 2017 von drei abtrünnigen Christdemokraten gegründeten Aktiven Bürger Büchen den etablierten Parteien bei den Wahlen 2018 den Rang abgelaufen.
Aktive Bürger überflügeln Sozial- und Christdemokraten
Die ABB überflügelten nicht nur die CDU deutlich. Es gelang ihnen auch, die SPD knapp hinter sich zu lassen. Gleichauf zogen nach der Wahl jeweils sieben Gemeindevertreter in die neue Versammlung, die CDU landete mit fünf auf dem dritten Platz.
Die ABB bietet nicht nur für die anstehende Wahl zur 19-köpfigen Gemeindevertretung 16 Kandidaten für Büchen auf. Zudem kandidieren auch sechs Kandidaten für den Kreistag – in Büchen selbst wie in Nachbarorten.
Die ABB punktet unter anderem mit der Frage, wie groß Büchen noch werden soll. Der Ort ist über die Jahre rasant gewachsen. Die gebotene Infrastruktur mit allen Schulen vor Ort und die verkehrsgünstige Lage am Schnittpunkt der Eisenbahntrassen Hamburg – Berlin und Lübeck – Lüneburg hat viele Menschen und Unternehmen angezogen.
Wählervereinigung will Einfluss auf Hochspannungstrasse
Mit den Kommunalwahlen 2018 waren in den Gemeinden des Amtes Schwarzenbek-Land außer in Gülzow auch in Kuddewörde Christdemokraten in eine Gemeindevertretung eingezogen. In den weiteren Dörfern bestimmen Vertreter von Wählergemeinschaften die Politik. Nun stellen sich in Kuddewörde neben Kandidaten unter dem Dach der CDU auch Parteiunabhängige als „Brückenbauer“ zur Wahl: Sie eint das Misstrauen gegen eine geplante Hochspannungstrasse: Die „Brückenbauer“ wollen verhindern, dass diese den Ort zerschneidet.
Für die schwindende Bedeutung der Parteien gibt es diverse Gründe: Die Ortsvereine überaltern, weil sich jüngere Menschen nicht längerfristig politisch binden wollen. Es fällt den Parteien immer schwerer, Kandidaten für die Kommunalwahlen zu finden, bestätigt Gülzows langjähriger Bürgermeister Wolfgang Schmahl (SPD).
UWG wird Sammelbecken für SPD- und CDU-Mitglieder
Selbst für eine Wahlliste, auf der Gülzower ohne Parteizugehörigkeit als „freie Bürger“ antreten und an der Gestaltung ihres Ortes mitwirken könnten, fanden sich kaum Interessenten, so Michael Schulz. Er ist bislang Kopf der CDU-Fraktion in der Gemeindevertretung, ohne selbst Parteimitglied zu sein.
Jetzt führt Schulz die neu gegründete UWG an. Schmahl wiederum will die SPD nicht verlassen, hat aber eine Lösung für sich gefunden, um auch zur nächsten Wahl anzutreten. So wie die Parteien freie Bürger (ohne Parteibuch) auf ihre Kandidatenlisten nehmen, erlaubt es die UWG-Satzung, dass „Freunde“ für die Wählergemeinschaft bei der Kommunalwahl antreten.
Parteienbindung nimmt seit drei Jahrzehnten ab
Professor Christian Martin, Politologe an der Universität Kiel, weiß von den Problemen der Parteien. Diese seien keineswegs auf die kommunale Ebene beschränkt. Die Parteienbindung habe in Deutschland seit rund drei Jahrzehnten abgenommen.
In den Kommunen habe die Parteizugehörigkeit von Kandidaten die geringste Bedeutung. Martin: „Die Zumessung von persönlicher Kompetenz und die Präsenz ist gerade in kleineren Orten von deutlich größerer Wichtigkeit.“ Der gelegentlich belächelte Haustürwahlkampf von Kandidaten sei daher durchaus ein probates Mittel, um potenzielle Wähler für sich zu gewinnen.
Auch Vereine, Feuerwehr und Kirchen schwächeln
Unter der gewachsenen Mobilität der Gesellschaft, verbunden mit der abnehmenden Kontinuität des jeweiligen Wohnortes, litten jedoch nicht nur Parteien. Die schwindende Verwurzelung „trifft auch örtliche Vereine, die Kirche und die Feuerwehr vor Ort“, betont der Dekan der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Kiel.
Zur Frage, warum es den Parteien konkret immer schwerer falle, Kandidaten für Kommunalwahlen aufzubieten, sei die Datenlage schwach, bedauert der Wissenschaftler. Nicht von der Hand zu weisen sei aber, dass die Gesellschaft insgesamt wie auch die Kommunalpolitik komplexer geworden sind. Martin: „Die Regelungsdichte ist größer geworden, zudem geht vieles über die örtliche Ebene hinaus, teils bis in EU-Recht.“
Handlungsspielraum der Kommunalpolitik schwindet
Die Vermischung von Zuständigkeiten schwächt einerseits den Handlungsspielraum der Kommunalpolitiker. Andererseits bleibt die kommunalpolitische Ebene wichtig: Hier fallen viele Entscheidungen, die die Menschen in ihrem jeweiligen Leben unmittelbar tangieren, von der Kita-Planung und dem Schulbau, über den Verkehr und die Ortsentwicklung bis zu Baugenehmigungen.
Erkenntnis gibt es zur „Entpolitisierung der Gesellschaft“, dazu wird in Kiel geforscht. Diese Tendenzen lassen in westlichen Demokratien den Populismus wachsen, der auf schwierige Fragen einfache Antworten anbietet. Die schwindende Rolle der Politik ist nach Erkenntnis der Forscher unter anderem Ergebnis der wachsenden Bedeutung von Verwaltung und Experten. Das Primat (der Vorrang) der Politik wird immer mehr zur Worthülse.
Bürger schätzen funktionierende Verwaltung mehr als Politik
„Breite Kreise in der Gesellschaft räumen dem Funktionieren der Verwaltung Vorrang vor der Politik ein“, bestätigt Martin. Die Mehrzahl der Bürger schätzen das regelbasierte Verwaltungshandeln höher ein als den politischen Diskurs in der Demokratie.
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Gerade vor Ort fällt es zudem Parteien immer schwerer, ihre Unterscheidbarkeit zu wahren. „Wir haben für Schleswig-Holstein untersucht, inwieweit sich die Entscheidungen zu Kitaplätzen in CDU- und SPD-geführten Gemeinden unterscheiden“, so Martin.
Ideologie und Programme haben kaum mehr Bedeutung
Dabei spielen weder Parteien und ihre Programm noch ideologisch bedingte Haltungen eine wichtige Rolle. „Die Entscheidungen fallen auf Basis der Nachfrage nach Kitaplätzen“: Ein Widerstreit zwischen Frauenförderung einerseits und der Rolle der Mutter in der Familie andererseits finde in der Regel nicht statt.
Eine Schlussfolgerung: Wenn die Unterschiede zwischen Parteien auf kommunaler Ebene kaum feststellbar sind oder wenig Auswirkungen haben, sind sie nicht von überragender Bedeutung, so Martin. „Die Kommunalpolitik muss von ihnen nicht dominiert werden.“
Professionalisierung der Politik könnte Parteien stärken
Wer dem Bedeutungsverlust insgesamt begegnen will, den verweist der Wissenschaftler auf drohende Konflikte. „Eine Möglichkeit wäre eine Professionalisierung der kommunalen Selbstverwaltung“, also dem Zusammenwirken von Politik und lokaler Verwaltung in Gemeinden, Ämtern, Städten und Kreisen.
Eine damit einhergehende Schaffung größerer Verwaltungseinheiten werde jedoch von vielen Menschen kritisch gesehen, weiß Martin. „Forderungen nach Nähe und nach Subsidiarität stehen dem natürlich entgegen.“ Das Subsidiaritätsprinzip regelt für föderale Staaten vereinfacht gesagt, dass Entscheidungen jeweils auf der niedrigst möglichen Ebene fallen sollen: Das Land darf demnach Entscheidungen nur an sich ziehen, wenn die Kommunen damit oder der Bewältigung von Aufgaben überfordert wären.