Mölln / Ratzeburg. Politiker wollen den Eindruck erwecken, sie würden Digitalisierung und schlanke Strukturen vorantreiben. Viele Tatsachen weisen in die Gegenrichtung.
Mit digitalen Rezepten und Krankschreibungen ohne „gelben Zettel“ versucht Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach aktuell, der ausufernden Bürokratie im Gesundheitswesen zu begegnen. Tatsächlich ist dies kaum die Spitze des Eisbergs. Und geht aus Sicht vieler Betroffener und Experten an den tatsächlichen Problemen vorbei: Erkrankte, Angehörige, Pflegedienste und Beratungsstellen drohen ebenso in der Flut von Formularen, Berichten und Verordnungen unterzugehen wie niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Pflegeheime und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
Bürokratieabbau durch Digitalisierung? Die Realität ist eine andere
Beim Besuch von Staatssekretär Johannes Albig aus dem Kieler Sozialministerium prasselte im Möllner Haus der sozialen Dienste viel Kritik auf den Politiker ein. Doch die Möglichkeiten des Landes sind in vielen Bereichen begrenzt. Zugleich werden weiße Flecken in der Pflege und die Probleme, die ärztliche Versorgung sicherzustellen, immer größer. Kein Wunder: Bis Mitte der 2030er-Jahre werden im Schnitt jährlich rund 9000 Mediziner in Ruhestand gehen. Immer mehr Praxen gerade in ländlichen Regionen schließen, weil sich keine Nachfolger finden lassen.
Dafür gibt es zwei Gründe: Die Zahl der Studienplätze hat nicht mit der absehbaren Rentenwelle mitgehalten. Und der Verwaltungsaufwand schreckt viele junge Mediziner ab, eine Praxis zu übernehmen. Auf etwa vier Stunden täglich haben niedergelassene Ärzte deutschlandweit kürzlich ihren Verwaltungsaufwand beziffert. Zu Deutsch: Gut die Hälfte ihrer Regelarbeitszeit müssen sie sich mit einem ausufernden Papierkrieg herumschlagen. Zeit, die für Patienten fehlt.
Zeitfressender Papierkrieg schreckt Ärztenachwuchs ab
Kaum besser die Situation an Krankenhäusern, dort sind es nach einer Umfrage des Marburger Bundes mindestens drei Stunden jeden Tag. Auf bis zu vier Stunden täglich veranschlagen immerhin 35 Prozent der Klinikärzte ihren Zeitaufwand. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren (2013) lag diese Quote nur bei acht Prozent.
Auch Pflegedienste, Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen wie auch Beratungsstellen können der Flut kaum mehr Herr werden. Die Schere zwischen Aufwand einerseits und Personal und Vergütung andererseits klafft immer weiter auseinander. Das hat Auswirkungen. Vereinzelt haben schon Pflegedienste und Pflegeheime geschlossen, um angesichts hoher Außenstände nicht den Weg zum Konkursrichter antreten zu müssen. Manchen mangelt es schlichtweg am Personal, um der ihnen auferlegte Pflicht zur Dokumentation fast aller pflegerischer Maßnahmen nachzukommen.
Viele Verordnungen von Ärzten sind überflüssig
Wie gravierend und vielschichtig die Überbürokratisierung ist, welche Folgen sie hat, erläuterten Expertinnen und Experten diverser Einrichtungen Staatssekretär Albig. Während etwa das neue digitale Rezept mit Macht durchgedrückt wird, sehen sich viele Pflegedienste abgehängt, weiß Cornelia Hagelstein, Leiterin des Pflegestützpunktes Herzogtum Lauenburg. „Die Abrechnungen sind noch immer nicht voll digitalisiert.“ Und die Zettelwirtschaft berge natürliche Fehlerquellen.
Vieles ließe sich aus ihrer Sicht mit geringem Aufwand ausräumen oder straffen, etwa Verordnungen von Hausärzten für chronisch kranke Menschen: „Ein an Demenz erkrankter Mensch, der jetzt Hilfe für die Medikamentengabe oder die Insulinspritze benötigt, benötigt die weiterhin.“ Alle drei Monate entsprechende Verordnungen beim Hausarzt einzufordern, sei unsinnig.
Pflegegrad? Der MdK entscheidet weiter nach Aktenlage
Doch auch der Personalmangel treibt Blüten. Hagelstein: „Während der Corona-Pandemie wurden die Hausbesuche des Medizinischen Dienstes zur Festlegung des Pflegegrades eingestellt, auf Fragebögen und Anrufe umgestellt.“ Dabei sei es geblieben. Folge: Immer mehr Betroffene und Angehörige suchten Hilfe beim Pflegestützpunkt, weil sie mit den Fragebögen nicht klarkommen. Für Hagelstein nachvollziehbar: „Der Grad der Selbstständigkeit ist entscheidend für die Beurteilung des Pflegebedarfs. Wenn der MdK schon nicht ins Haus kommt, wäre eine vorherige Beratung für die Betroffenen und die Angehörigen hilfreich.“
Doch der Amtsschimmel macht auch vor Menschen mit Einschränkungen oder ihren Angehörigen nicht halt. „Diese Bürokratiemonster sind schon für viele Menschen ohne Beeinträchtigungen nicht zu verstehen, sie selbst und viele Angehörige sind damit überfordert“, heißt es von der Lebenshilfe. Oliver Lietzke, Geschäftsführer von Anker e.V. (Eingliederung von Menschen mit Einschränkungen) kritisierte den gestiegenen Aufwand für Dokumentationen und Formalia. Das koste zu viel Zeit, die für den notwendigen Kontakt zu Betroffenen fehle.
„Bürokratiemonster“ überfordert viele Menschen
Auch Verena Heldt, Leiterin der ambulanten Hilfen beim Lebenshilfswerk Mölln/Hagenow gGmbH, beklagt das Verhältnis von Bürokratie und praktischer Arbeit. Diese trete immer mehr in den Hintergrund: „Natürlich sind Dokumentation und die Pflicht, jeweils die Wirksamkeit von Eingliederungsmaßnahmen zu kontrollieren wichtig. Aber dafür braucht es Geld und Personal.“
Die aktuelle Entwicklung habe jedoch dazu geführt, dass die freien Träger verstärkt mit den Kreisen um das schon zuvor knappe Fachpersonal konkurrieren müssen. „Für die Bedarfsermittlung haben die Kreise Hilfeplaner beziehungsweise Fallmanager, wie sie in Mecklenburg-Vorpommern heißen, eingestellt“, so Heldt. Eine sichere Stelle im öffentlichen Dienst habe natürlich Strahlkraft gegenüber einer Anstellung bei einem freien Träger.
Immer mehr Bürokratie trifft auf immer weniger Personal
Eine Folge: Die Personalnot verschärft sich. Weil es an anderen Kräften mangelt, „müssen jetzt unsere Pädagogen auch noch diesen bürokratischen Mehraufwand bewältigen.“ In den Kreisen Herzogtum Lauenburg und Ludwigslust-Parchim kümmert sich allein das Lebenshilfswerk um rund 2000 Menschen, unterhält dafür im Herzogtum Werkstätten und Einrichtungen in Geesthacht, Schwarzenbek, Mölln und Ratzeburg, dazu integrative Kindergärten in Grambek, Mölln und Wentorf.
Während manche politisch Verantwortlichen argumentieren, im Gesundheitssektor werde versucht, die ausufernde Bürokratie zurückzudrängen oder zu bremsen, trabt der Amtsschimmel in der Arbeit mit behinderten Menschen davon. Nicht genug, dass die Anforderungen an Werkstätten oder Arbeitgeber, die sich in der Wiedereingliederung engagieren, weiter angehoben wurden. Zu neuen Gesetzen und Regeln kommt ein Umstand, der in der Öffentlichkeit bislang kaum bekannt ist.
Neue Kleinstaaterei statt einheitlicher Regeln
„Für die Verfahren zur Ermittlung des persönlichen Bedarfes sollte eine bundeseinheitliche Regelung gefunden werden, das hat nicht funktioniert“, bedauert Heldt. Die Folge sind „Verfahren und Parameter, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden“. Wer etwa in Bayern oder Hessen einen bestimmten Bedarf zugesprochen erhält, könne nicht davon ausgehen, dass dies nach einem Umzug etwa nach Schleswig-Holstein oder Hamburg Bestand habe.
- Ärzte anwerben: Lauenburgs Bürgermeister macht es zur Chefsache
- Grüne fordern lokales Stipendium für Hausärzte
- Seniorenbeirat kämpft für mehr Plätze in der Kurzzeitpflege
Wenn der ausländische Arzt zur Mammutaufgabe gerät
Derartige Auswüchse von Bürokratie und Föderalismus sind kein Einzelfall. Will etwa ein deutsches Krankenhaus einen ausländischen Arzt einstellen, ist dies eine Mammutaufgabe. Dazu sind die Anforderungen, Abläufe und Fristen für die verschiedensten geforderten Prüfungen in den Bundesländern unterschiedlich, weiß Dr. Burkhard Reher (61), Chefarzt der Psychiatrie am Johanniter-Krankenhaus Geesthacht.
Bemühungen, die Kliniken zumindest ein wenig vom Papierkrieg zu entlasten, vermag der erfahrene Mediziner bislang nicht zu erkennen. Reher: „Ich bin seit 1991 in meinem Beruf tätig. Seitdem hat die Bürokratisierung immer mehr zugenommen.“ Zu viel Zeit, die er und seine Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte für die Patienten brauchen, verbringen sie am Schreibtisch.