Büchen/Ratzeburg. Personalmangel, hohe Kosten und weite Wege: Immer mehr Pflegedienste auf dem Land geben auf. Welche Alternativen es geben könnte.
Die Lücken werden immer größer: Wer in den vergangenen Monaten versucht hat, Betreuung oder eine ambulante Pflege für eine pflegebedürftige Angehörige oder einen Freund zu organisieren, ist häufig an Grenzen gestoßen.
Was in Ballungsräumen oder Städten mit Geduld noch zum Ziel führt, erweist sich in den Dörfern auf dem flachen Land immer häufiger als Glücksspiel mit ungewissem Ausgang. Angesichts von Personalmangel, weiten Wegen und hohen Kosten haben sich immer mehr Pflegedienste aus der Fläche verabschiedet.
Mit sozialer Betreuung gegen den Pflegenotstand
Im Kieler Landtag ist die SPD gegen die schwarz-grüne Regierungsmehrheit mit einem Vorstoß für einen Betreuungsservice unter der sperrigen Überschrift „Vor-Ort-für-Dich-Kräfte“ nicht durchgedrungen. Idee: Mit mehr Unterstützung könnte Menschen länger ein selbstbestimmtes Leben in der eignen Wohnung ermöglicht werden. Vor Ort punkten Sozialdemokraten mit dem Thema – bei Pflegeexperten und Betroffenen, wie jüngst auf einer Podiumsdiskussion im Büchener Bürgerhaus.
Einsamkeit, gerade im Alter, soziale Isolation, aber auch die schwindende Kraft familiärer Bindung: Für Menschen, die bereit sind, sich hauptamtlich zu kümmern, gäbe es viele Ansätze. Der Vorstoß im Kieler Landtag auf Schaffung und Finanzierung von 100 Stellen über zunächst drei Jahre in den Kommunen hatte zunächst keinen Erfolg.
Pflegenotstand: Fachkräfte wechseln wegen hoher Belastung den Beruf
Mit fünf Millionen Euro im Jahr sollte eine neue, aufsuchende Sozialarbeit finanziert werden. Zielsetzung: Unterstützungsbedarfe frühzeitig erkennen und mit der Vermittlung sozialer, pflegerischer oder auch medizinischer Angebote Betroffenen und ihren Angehörigen zielgerichtet helfen.
Der Personalmangel in der Pflege sei in Teilen hausgemacht, genauer, durch die überbordende Bürokratie mitverursacht, waren sich die an der Podiumsdiskussion teilnehmenden Expertinnen einig. Viele Pflegefachkräfte wechselten den Beruf oder gehen von Vollzeit- auf Teilzeitstellen, weil die Belastung zu groß sei, bestätigte etwa Wiebke Hagen, Vorsitzende der Gemeinschaft Pflegeberatung Herzogtum Lauenburg.
Bürokratie treibt Pflegekräfte zur Verzweiflung, oder aus dem Beruf
Ausufernde Bürokratie koste Pflegekräften zu viel Zeit, beklagt Cornelia Hagelstein, Leiterin des Pflegestützpunktes im Herzogtum. „Es geht zu viel Zeit durch die Dokumentationspflichten verloren, die besser für die Pflege selbst genutzt würde.“ Die Überlastung spiele für die Entscheidungen vieler Pflegekräfte eine größere Rolle als die Bezahlung, „die Entlohnung hat sich die vergangenen Jahre deutlich gebessert“.
Im Kreis Herzogtum Lauenburg sind Tagespflegeplätze und vor allem Kurzzeitplätze etwa zur Entlastung pflegender Angehörige weiter Mangelware. Ein Grund: Für die Träger sind dauerhaft belegte Pflegeplätze lukrativer als solche, die nicht jeden Tag genutzt werden.
Hessen und Rheinland-Pfalz machen es vor
Wer angesichts der Diskussionen an das Leistungsspektrum denkt, das früher Gemeindeschwestern auf den Dörfern abgedeckt haben, liegt durchaus im Trend. Zumindest wenn man den Blick über den Tellerrand Schleswig-Holsteins wagt. In teils dünn besiedelten Flächenländern wie Rheinland-Pfalz und Hessen etwa erledigen Gemeindepflegerinnen und -pfleger oder GemeindeschwesternPlus als direkte Ansprechpartner einen breiten Aufgabenkanon, entlasten damit viele Menschen – Betroffene wie auch deren Angehörige.
GemeindeschwesterPlus ist kein Allheilmittel
Für Cornelia Hagelstein sind diese Modelle jedoch keine Allheilmittel. Für examinierte Kräfte gelten die gleichen Regeln, die schon den Pflegekräften die Arbeit erschweren: „Auch eine examinierte Gemeindeschwester, die in der Pflege tätig ist, muss alles dokumentieren, von der Wundversorgung bis zur Gabe von Medikamenten und Spritzen.“ Wenn sie auch beratend tätig sein soll oder in der Vermittlung von Hilfen oder Unterstützung, drohe eine totale Überlastung.
Dabei muten manche Regelungen kurios an. Nur examinierte Fachkräfte, nicht aber erfahrene Pflegehelfer dürfen etwa eine Insulinspritze geben, bestätigt Hagelstein. „Das hindert die Kassen aber nicht, für diese Aufgabe an die Ehepartner zu verweisen, die bis dahin möglicherweise keinerlei Erfahrungen in der Pflege gesammelt haben.“
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Pflege- und Krankenkassen in die Pflicht nehmen?
„Es geht uns nicht darum, Pflegediensten Konkurrenz zu machen“, sagt Gitta Neemann-Güntner. Die Vorsitzende des Kultur- und Sozialausschusses im Kreis hat das Podium in Büchen moderiert, an dem auch der SPD-Fraktionsvorsitzende im Kieler Landtag, Thomas Losse-Müller, teilgenommen hat. Es gehe vielmehr darum, eine soziale Ergänzung zur aufsuchenden Pflege zu etablieren, so Neemann-Güntner. Damit könne über die Zeit weitaus mehr Geld eingespart werden, als für die Finanzierung notwendig ist.
Die Vermeidung frühzeitiger Aufenthalte in Pflegeheimen rechne sich, ist die Sozialdemokratin überzeugt. „Daran müssten auch Pflege- und Krankenkassen ein Interesse haben.“ Wichtig sei jedoch eine genaue Analyse, was jeweils benötigt werde.
„Für die Fläche braucht es andere Lösungen als in großen Städten wie Kiel oder Lübeck“, ist die Sozialdemokratin überzeugt. Mancherorts werde möglicherweise eher soziale Kompetenz und Wissen um Betreuung im Alter oder auch aus dem Bereich Schuldnerberatung benötigt, anderorts eher eine Fachkraft, die qualifiziert ist, medizinische Hilfe zu vermitteln oder auch Spritzen zu geben.
KOMMENTAR von André Herbst
Der Königsweg ist noch nicht gefunden. Vermutlich gibt es ihn auch nicht, zu viele Probleme addieren sich, verschärfen den Pflegenotstand immer weiter. Und die Zeit drängt. Eine immer älter werdende Gesellschaft benötigt mehr Menschen, die sich um Senioren und Kranke kümmern. Tatsächlich bedarf es jedoch vieler guter Ideen, um deren Zahl auch nur stabil zu halten.
Gefordert ist dabei vor allem auch die Politik. Sie darf es nicht zulassen, dass der Amtsschimmel die Menschen ausbremst, die andere pflegen, sei es in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder den eigenen vier Wänden. Wir erleben in der Pflege aktuell, was bereits in den Krankenhäusern große Lücken reißt.
Politiker müssen sich nur die Mühe machen, mit überlasteten Ärzten oder Pflegekräften zu sprechen. Spätestens, wenn sie dann auf Menschen treffen, die sich hochgradig genervt aus ihrem Beruf verabschieden oder die es als Höchstmaß an Organisationstalent bewerten, wenn sie nicht 40 Prozent oder mehr ihrer Arbeitszeit für den Papierkrieg aufwenden müssen, sollten bei den politisch Verantwortlichen alle Alarmklingeln schrillen.
Eine überbordende Regelungs- und Kontrollwut können wir uns nicht mehr leisten. Die Verantwortlichen sind gefordert, dieses Dickicht endlich zu durchforsten, anstatt immer neue, immer kleinteiligere Dokumentationspflichten zuzulassen oder gar selbst auf den Weg zu bringen.
Erste Schritte sind in manchen Bundesländern getan. Doch eine zielgerichtetere Ausbildung, verbesserte Karrierechancen und auch bessere Entlohnung sollten dazu beitragen, dass tatsächlich mehr Menschen in der Pflege arbeiten – und nicht mehr Mitarbeiter gezwungen werden, weitere Datenberge erzeugen.
Die Idee der GemeindeschwesterPlus ist ein Ansatz, das System breiter aufzustellen, gerade in der Fläche, wo die Not besonders groß ist. Die Pflegekräfte insgesamt zu entlasten, ist eine Idee, an der kein Weg vorbeiführt. Dazu zählt auf jeden Fall der Kampf gegen die Papierflut. Eine Ergänzung durch hauptamtliche Kümmerer, die Menschen aufsuchen und sie bei der Bewältigung vieler Probleme unterstützen und begleiten, ist eine weitere Möglichkeit. Und einen Test wert.