Lauenburg. Vor zehn Jahren bedrohte das Hochwasser die historischen Häuser. Hals über Kopf müssen die Anwohner raus. Ein Rückblick.
Sonniges Frühsommerwetter, ein paar Schönwetterwolken – die Lauenburger Altstadt gleicht einer Postkartenidylle. Genauso war es vor zehn Jahren – am Sonntag, 9. Juni 2013. Nur die Barrieren aus Sandsäcken erinnerten damals daran, dass man sich in Lauenburg auf ein Rekordhochwasser vorbereitete. Am Freitag hatte der Katastrophenstab des Kreises die Evakuierung der Altstadt angeordnet, um diese kurz darauf zurücknehmen. Es würde doch nicht so schlimm kommen, wie befürchtet. Jetzt war von 9,20 Meter die Rede. An die erste Hochwasser-Prognose von 10,35 Meter hatte an der Elbstraße ohnehin kaum jemand geglaubt. „Wir haben hier schon ganz anderes erlebt“, winkten die Alten nur ab.
Doch die Ereignisse überschlugen sich an diesem Tag. Stündlich wurden die Prognosen wieder nach oben korrigiert. Im vom Kreis gebildeten Katastrophenstab klingelten die Telefone heiß. Die Elbe bei Lauenburg werde nun doch auf 10,35 Meter ansteigen – ein bis dahin noch nie erreichter Pegelstand. Fachleute warnten: Der Fluss würde mit acht Metern in der Sekunde durch die Elbstraße rauschen.
Hochwasser 2013: Erinnerungen bei allen Beteiligten in lebhafter Erinnerung
Im Katastrophenstab war man sich einig: Die Bewohner müssen aus ihren Häusern. Am besten sofort, spätestens aber bis Montag, 8 Uhr. Noch am späten Abend trommelte die Stadt Bewohner, die noch wach waren, in der Heinrich-Osterwold-Halle zusammen. Tumult machte sich breit. „Ihr habt doch nur Schiss in der Büx. Wir bleiben“, so die trotzige Ansage vieler. Es nutzte ihnen nichts.
Heute, zehn Jahre später, sind die Ereignisse bei allen Beteiligten in lebhafter Erinnerung. „Ich hatte eigentlich keinen Dienst und schon ein Feierabendbier getrunken. Da rief mich mein Chef an, ich müsse sofort in der Elbstraße und die Bewohner über den neuen Sachstand informieren“, erzählt der ehemalige Lauenburger Polizist Ulf Claasen. „Also bin ich von der Marina bis zur Zündholzfabrik immer hin und her gelaufen und habe meine Ansage durchs Megafon gemacht: Achtung, Achtung. Bitte verlassen Sie ihre Häuser! Bis spätestens Morgen früh acht Uhr“, erinnert er sich.
Nachbarn nahmen Altstadtbewohner bei sich auf
Diese Szene hat sich bei Altstadtbewohner Jörg Sönksen tief eingebrannt: „Ich sehe den Polizisten noch vor mir, der mitten in der Nacht die Leute weckte.“ Dabei betraf die Evakuierung ihn und seine Frau gar nicht direkt. Ihr Haus liegt erhöht in der Elbstraße und war vor dem Hochwasser sicher. Doch Sönksen hatte kurz zuvor die Nachbarschaftshilfe gegründet, einen Zusammenschluss von Leuten, die Hilfe brauchten, und solchen, die helfen wollten.
„Anfangs ging es nur darum, Möbel in die oberen Etagen zu transportieren. Als dann die Evakuierung anstand, wurden die Probleme größer. Wir organisierten zum Beispiel die Möglichkeit, Medikamente zu kühlen“, erinnert er sich. Wie andere Altstadtbewohner in sicherer Höhe rückte das Ehepaar Sönksen zusammen und nahm Bewohner aus den unteren Lagen bei sich auf. Andere kamen bei Freunden oder Verwandten unter. Die Stadt hatte außerdem Notunterkünfte eingerichtet.
Wasser schoss durch die Kanalisation in die Altstadt
Lauenburgs Wehrführer Lars Heuer war damals erst wenige Wochen im Amt. „Die meisten Bewohner standen unter Schock, als sie ihre Häuser nun doch verlassen müssen. Doch sie vertrauten uns, dass wir die Stellung halten würden“, erzählt er. Umso schmerzlicher: Nur einen Tag später mussten auch die Retter das Feld räumen und die Pumpen abstellen. Mit zu großer Wucht schoss das Wasser inzwischen durch die Kanalisation in die Altstadt.
Karsten Steffen war damals Sprecher des Katastrophenstabes, der zu dieser Zeit mehrmals täglich in Lauenburg zusammenkam. „Nicht alle Bewohner hielten sich an das Betretungsverbot ihrer Häuser. Mithilfe der Polizei hatten wir alle Hände voll damit zu tun, dass sich die Leute nicht darüber hinweg setzten“, erinnert er sich. Allerdings hätten da zwei Herzen in seiner Brust geschlagen.
„Ich sehe noch den alten Mann vor mir, der mit ein paar Habseligkeiten im Koffer sein Haus verlassen musste. Das tat mir in der Seele weh. Allerdings mussten wir annehmen, dass sich die Leute in Lebensgefahr begeben würden, wenn sie bleiben“, sagt er. Ausgelöst wurde die flächendeckende Evakuierung wegen dramatischer Prognosen. Die schwankten allerdings extrem – und es kam längst nicht so dramatisch, wie vorhergesagt: 9,64 Meter. war der Höchststand der Elbe im Juni 2013.
Sechsjähriger bringt seine Ängste aufs Papier
Der ehemalige Bauamtsleiter Reinhard Nieberg gehörte auch zum Katastrophenstab. „Als wir die Evakuierung anordneten, war mir bewusst, dass wir in ein ureigenes Grundrecht eingreifen. Aus heutiger Sicht hätten wir vielleicht anders entschieden, aber damals hatten wir keine andere Wahl“, sagt er.
Wie die meisten der Beteiligten hat auch er bestimmte Bilder im Kopf, die er mit der damaligen Situation verbindet. „Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, der spätabends mit seinem Vater in der Heinrich-Osterwold-Halle saß, als wir die Evakuierung ankündigten. Der Junge hatte einen Teddy auf dem Schoß und schaute uns mit großen Augen an“, erinnert er sich.
Kinderzeichnung war Teil einer Ausstellung
Der Junge mit dem Kuscheltier war der damals sechsjährige Jonathan. Sein Vater Ferdinand Soethe organisierte später die Ausstellung „Geschichten von Ohnmacht, Angst und Hoffnung“ in der Maria-Magdalenen-Kirche. Der heute 16-jährige Jonathan kann sich noch gut an seine Zeichnung erinnern, die in der Ausstellung zu sehen war.
Sandsäcke hatte er gemalt und eine große Pumpanlage. Außerdem war die Kirche darauf zu sehen, sein Vater und er selbst. „Die lauten Geräusche der Pumpe und das rote Licht von den Autos hatten mir damals Angst gemacht“, weiß er noch heute.
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Harsche Kritik am Krisenmanagement
Die Erwachsenen verstand Jonathan damals oft nicht. Weil sie in der Eile den Kuschelpinguin vergessen hatten, sind er und sein Vater kurz nach der Evakuierung noch einmal in das Haus gegangen. „Vertreter des Katastrophenstabes führten einen Tross Journalisten durch die Altstadt. Aber uns motzten sie an, was wir hier zu suchen hätten. Das konnte ich meinem Sohn nicht erklären“, sagt Ferdinand Soethe.
Seiner Meinung nach würden auch viele Erwachsene die Ereignisse vom 10. Juni 2013 noch mit sich rumschleppen. Sechs Tage später durften die Bewohner in ihre Häuser zurückkehren. Wegen der Evakuierung und deren Durchsetzung hagelte es herbe Kritik. „Man hat uns behandelt wie Schulkinder, aber nicht wie Menschen, die in einer Krise stecken“, brachte Anwohnerin Susanna Brauer-Betghe die allgemeine Stimmungslage auf den Punkt.
Noch immer kein Konzept für den Ernstfall
Andere meinten, man hätte den Sachverstand der Betroffenen leichtfertig außer Acht gelassen. Im Dezember 2013 waren die betroffenen Altstadtbewohner dann zur Manöverkritik eingeladen. Ein halbes Jahr später waren sich nämlich auch die Verantwortlichen aus dem Katastrophenstab darüber im Klaren, dass bei der Evakuierung nicht alles optimal gelaufen war.
Obwohl lange angekündigt, gibt es bisher trotzdem kein verbindliches neues Konzept für den Ernstfall. Nur eine Erkenntnis hat sich durchgesetzt: Künftig solle es in ähnlicher Situation keine allgemeine Evakuierung wie 2013 geben, sondern Einzelfallbetrachtungen nach Prognosen, Höhenlagen und anderen Gefährdungskriterien.