Hamburg. Serie: Beschäftigte verzweifelt gesucht, Teil 7 Hamburgs Kliniken tun viel, um Beschäftigte im Ausland zu gewinnen. Das sagen Kritiker.

Atefeh Yousefi ist eine Hoffnungsträgerin. Die junge Frau aus dem Iran arbeitet seit vier Monaten auf der Station H30 in der Asklepios Klinik Nord Heidberg. Blut abnehmen, Infusionen legen, Patienten umbetten – wenn alles nach Plan geht, bekommt sie Ende Oktober ihre Anerkennungsurkunde als staatlich anerkannte Gesundheits- und Krankenpflegerin und kann eine der offenen Planstellen in dem Langenhorner Krankenhaus besetzen. Die Auswahl ist groß. Aktuell gibt es mehr als 80 Stellenausschreibungen auf der Internetseite – allein in der Pflege.

Erst Ende vergangenen Jahres hatte die 27-Jährige, die in ihrer Heimat ein Krankenpflege-Studium absolviert und fünf Jahre in einer Klinik gearbeitet hat, sich auf gut Glück beim größten Hamburger Gesundheitsversorger beworben. Bei As­klepios gibt es seit zwei Jahren ein Willkommenszentrum für internationale Pflegekräfte, über das Anwerbung, Ausbildung und Integration des dringend benötigten Fachpersonals für alle sieben Kliniken der Stadt abgewickelt werden. Das hat sich rumgesprochen. Die Kontaktdaten werden weltweit weitergegeben. Wenige Wochen später hatte die iranische Krankenpflegerin einen deutschen Arbeitsvertrag und kam im Februar in Hamburg an.

Personalmangel: Asklepios fördert internationale Pflegekräfte

Nicht immer läuft es so glatt wie in diesem Fall. „Es kann bis zu einem Jahr dauern, bis eine internationale Pflegekraft tatsächlich bei uns startet“, sagt Stefanie Ludwig, die die Leiterin des Willkommenszentrum und auch Integrationsbeauftragte in der Asklepios Klinik Nord mit insgesamt 3500 Beschäftigen ist. Neben einer entsprechenden Fachqualifikation brauchen die Bewerber und Bewerberinnen Sprachzertifikate und ein Visum, um in Deutschland arbeiten zu können.

Erster Schritt in das neue Leben ist eine sogenannte Anpassungsqualifizierung, die sechs bis acht Monate dauert. Monatlich bekommen die Teilnehmer in dieser Zeit etwa 2000 Euro netto. „Wir unterstützen sie aber auch bei anderen Problemen“, sagt Stefanie Ludwig. Anmeldung, Krankenkasse, Bankkonto, Wohnungssuche – fast alles ist anders in Deutschland, anders als zum Beispiel im Iran, in Mexiko oder Jordanien.

Personalmangel: Intensiv und Notaufnahme unterbesetzt

Ungefähr 150 Männer und Frauen betreut das Willkommenszentrum mit acht Beschäftigten im Jahr, davon etwa 30 für das Klinikum Nord. Auf dem Gelände sind nicht nur die Büros und Schulungsräume, sondern auch eine spezielle Ausbildungsstation im Bereich Innere Medizin für den praktischen Teil der Qualifizierung, die von Victoria Burfeind geleitet wird. Mehrere 10.000 Euro investiert As­klepios nach eigenen Angaben, bis eine Pflegekraft im Regelbetrieb einsetzbar ist. Auch das zeigt, wie groß die Not ist. Kaum ein Krankenhaus in Deutschland kann derzeit alle offene Pflegestellen besetzen, zeigt das Krankenhausbarometer 2021. Besonders eklatant ist der Fachkräftemangel auf den Intensivstationen, in den Notaufnahmen und im OP-Bereich.

Aber auch in Arztpraxen fehlen etliche medizinische Fachangestellte. Das führt teilweise dazu, dass Radiologen lebenswichtige Untersuchungen bei potenziellen Krebspatienten nicht in dem Umfang durchführen können, wie es wichtig wäre, und Labore händeringend Assistenten für die Auswertung von PCR-Tests suchen. Der Mangel in Senioreneinrichtungen und bei ambulanten Pflegediensten ist so groß, dass Stellen manchmal monatelang vakant bleiben und vielfach auf Zeitarbeitsfirmen zurückgegriffen werden muss. Und selbst bei der ärztlichen Grundversorgung klaffen inzwischen in einigen Regionen Deutschlands große Lücken.

Studie: bis 2035 könnten 1,8 Millionen Fachkräfte fehlen

Aber auch in Hamburg, mit etwa 41.000 Beschäftigten in Krankenhäusern und gut 74.000 im Gesundheitswesen (Angaben laut Bundesarbeitsagentur Ende 2021) einer der großen Gesundheitsstandorte Deutschlands, werden die Probleme längst sichtbar. Man muss nur eins der gängigen Jobportale wie medi-jobs, medi-karriere oder auch Stepstone öffnen, um die Misere zu erkennen: Mehrere 100 offene Stellen in allen Bereichen sind dort aktuell für die Branche gemeldet. Und die Lage wird angesichts der demografischen Entwicklung noch dramatischer: Nach einer Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) könnten bis 2035 bundesweit fast 1,8 Millionen Fachkräfte fehlen. Das entspricht einem Engpass von 35 Prozent. Aktuell liegt die Quote laut PwC bei 6,8 Prozent.

Dass es personelle Engpässe in der Pflege gibt, spüren auch die Patienten. Das Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) reagiert, wie andere Häuser auch, mit der zeitweiligen Sperrung von einzelnen Stationen oder Betten. Aktuell ist die Lage besonders angespannt, weil zur grundsätzlichen Personalknappheit noch pandemiebedingte Ausfälle und die besondere Pflege von Corona-Patienten kommen. „Beispielsweise wird die Bettenkapazität in der Klinik für Intensivmedizin im Rahmen einer täglichen Prüfung und einer interprofessionellen Abstimmung bei Bedarf dem benötigten Betreuungsschlüssel angepasst, um ausreichend qualifiziertes Personal für den Intensivbereich zur Verfügung zu stellen“, heißt es auf eine Anfrage des Abendblatts. Konkrete Zahlen werden nicht genannt.

Personalmangel wegen zu vieler Aussteiger

Über die Gründe für den Fachkräftemangel wird seit Jahren diskutiert, genau wie über die Lösungen. „Wir haben kein Nachwuchsproblem, aber es steigen zu viele Pflegekräfte aus dem Beruf aus“, sagt Claudia Brase, Geschäftsführerin der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft (HKG). Tatsächlich melden die beiden größten Krankenhausträger der Stadt seit Beginn der Pandemie Rekordanmeldungen in der Ausbildung. Bei Asklepios waren es im vergangenen Jahr mehr als 400 Frauen und Männer. Im Universitätsklinikum Eppendorf starteten 152 junge Menschen in die Pflegeausbildung, in diesem Jahr steigt die Zahl sogar auf 167.

„Ob eine Pflegekraft im Beruf bleibt, steht und fällt mit den Arbeitsbedingungen. Das ist ein Teufelskreis“, sagt Brase, die mit der HKG 36 Kliniken in Hamburg und Umgebung vertritt. Sie fordert eine deutlich verbesserte Finanzierung der Krankenhäuser, um der Überlastung auf den Stationen entgegenzuwirken. Außerdem müsste die Arbeit moderner, flexibler und auch berufsgruppenübergreifend organisiert werden. „Das rückwärtsgewandte Bild, dass nur Ärzte und ausgebildete Pflegekräfte etwas am Krankenhausbett zu suchen haben, verhindert innovative Lösungen“, kritisiert sie.

UKE entwickelt Entlastungsstrategie

Dabei tut sich durchaus etwas. So hat das UKE – wie andere Kliniken auch – Strategien entwickelt, wie Pflegekräfte in ihrer täglichen Arbeit durch andere Berufsgruppen entlastet werden können. Beispielsweise müssen in dem Eppendorfer Klinikum mit gut 90.000 Patienten im Jahr die Tabletten nicht, wie üblicherweise in Krankenhäusern, vom Pflegepersonal bereitgestellt werden, sondern kommen für jeden Patienten vorbereitet aus der Klinik-Apotheke auf die Station. Weitere Entlastung sollen Unterstützungskräfte und Versorgungsassistenten bringen. Für Personalausfälle gibt es einen sogenannten Pflegepool mit qualifizierten Fachkräften, die in diesen Fällen einspringen.

In den Asklepios-Krankenhäusern wird ähnlich gearbeitet. Aus der Zentrale heißt es aber auch: „Neben dem absoluten Fachkräftemangel haben wir zudem einen relativen Fachkräftemangel in der Pflege.“ Gemeint ist, dass das Pflegepersonal etwa ein Drittel der Arbeitszeit mit fachfremden Tätigkeiten wie etwa Dokumentationspflichten verbringt. „Ohne Änderungen und Verbesserungen von strukturellen Problemen und behördlichen Vorgaben werden wir keine Lösung des Fachkräftemangels erreichen.“

Ärztekammer fordert Strukturwandel

Besser sieht es zumindest in Hamburg noch bei den Medizinern aus. Aber Ärztekammer-Präsident Pedram Emami warnt: „Es wird in der Öffentlichkeit kaum regis­triert, dass wir auch in der ärztlichen Versorgung auf ein Riesenproblem zulaufen.“ Schon in fünf Jahren könne der Personalmangel bei Ärzten ähnlich dramatisch sein wie heute in der Pflege.

Dr. med. Pedram Emami ist der Präsident der Ärztekammer Hamburg.
Dr. med. Pedram Emami ist der Präsident der Ärztekammer Hamburg. © MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services | Foto: Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Dafür sieht er trotz steigender Studierendenzahlen zwei Hauptgründe: Durch die verbesserten Arbeitszeitregelungen würden in den Kliniken mehr Mediziner gebraucht, um alle Dienste abzudecken. Und auch im ambulanten Bereich werde es eng. „Immer weniger Ärzte wollen sich mit einer eigenen Praxis niederlassen und das unternehmerische Risiko tragen“, so Emami. Auch der Ärztekammer-Präsident fordert einen Strukturwandel, mehr Geld für Personal und weniger Bürokratie.

Immer mehr internationale Fachkräfte rekrutiert

Das sind dicke Bretter, schnelle Veränderungen wohl eher Wunschdenken. Auf der Suche nach Fachpersonal lassen sich die Kliniken inzwischen einiges einfallen. Es gibt besondere Arbeitszeitmodelle für Menschen, die nach der Elternzeit wieder einsteigen, Prämien für Mitarbeiterwerbung und übertarifliche Bezahlung.

Parallel bekommt die Rekrutierung von ausgebildeten Fachkräften im Ausland immer mehr Bedeutung. Auch wenn es immer auch Kritik an der Anwerbung gibt, von hohen Vermittlungsgebühren für Recruiting-Agenturen die Rede ist und von einem drohenden „Care Drain“, also der Abwanderung von wichtigem Pflegepersonal in den Herkunftsländern – schon jetzt arbeiten nach Zahlen der Bundesarbeitsagentur mehr als 200.000 internationale Pflegekräfte in Deutschland. Mit einem Anteil von 13,5 Prozent sind es heute rund dreimal so viele wie 2013.

Internationale Fachkraft: Qualifizierung und Integration

Dabei entwickelt sich der Bereich zu einem neuem Geschäftsfeld. Im vergangenen Jahr war mit der Amesol Akademie der erste private Anbieter in Hamburg gestartet, der im Auftrag von Krankenhäusern und Pflegeheimen Qualifizierungs- und Integrationsprogramme durchführt. „Offene Stellen für Pflegefachkräfte bleiben durchschnittlich sechs Monate vakant“, sagt Geschäftsführer Moritz Büning. Das achtmonatige Programm, das die Mitgründerin und frühere Leiterin der Anpassungsqualifizierung im UKE, Doris Thümen-Suhr, mitentwickelt hat, umfasst neben fachlichen Inhalten auch Sprachtraining und Stressbewältigungsmethoden und wird von der Bundesarbeitsagentur zu 50 Prozent gefördert.

„Es bringt nichts, die internationalen Fachkräfte einfach nur einzustellen, sondern man muss sie auf allen Ebenen inte­grieren“, sagt Büning. Inzwischen betreut Amesol 70 Teilnehmer aus 20 Ländern im Anpassungsqualifizierungsprozess. Zu den Kunden gehören unter anderem das Marienkrankenhaus, das Agaplesion Bethesda Krankenhaus Bergedorf und die Asklepios-Kliniken.

Seit der Gründung des Willkommenszentrum wächst die Zahl der Teilnehmer ständig. In den vergangenen Monaten haben auch die ersten Pflegekräfte aus der Ukraine, die vor dem Krieg nach Hamburg geflüchtet waren, ihre Anpassungsqualifizierung gestartet. Insgesamt haben allein am Klinikum Nord in diesem Jahr schon knapp 20 Pflegekräfte den Prozess durchlaufen. „Wir freuen uns über jeden, der fertig wird und eine der offenen Stellen besetzen kann“, sagt Stefanie Lindenau aus der Pflegedienstleitung. Perspektivisch hofft sie, die Vakanzen über diesen Weg komplett füllen zu können.

Auch Atefeh Yousefi, die Krankenpflegerin aus dem Iran, freut sich auf ihren bevorstehenden Abschluss. „Es läuft gut. Ich bin zufrieden“, sagt die junge Frau, die schon gut Deutsch spricht. Nur eins macht ihr im Moment Sorgen: Sie sucht dringend eine bezahlbare Wohnung. „Das ist sehr schwer in Hamburg.“