Lauenburg. Die Sowjets schießen vor 70 Jahren nahe der Stadt einen britischen Militärflieger ab. Die Situation droht zu eskalieren. Eine Spurensuche.
Wenn von einem Dachbodenfund die Rede ist, denken die meisten wahrscheinlich an lange verborgene Schätze, die eine Menge wert sind. Manchmal sind es aber auch Zeitdokumente – wertvoll, weil sie einen Einblick bieten in das Leben der Menschen, die diese aufbewahrt haben.
Bei Aufnahmen in einem leerstehenden Haus an der Elbstraße fand Fotograf Dirk Eisermann eine vergilbte Lauenburgische Landeszeitung vom 13. März 1953. „Britenbomber von MIGs abgeschossen“ titelte das Blatt. Wir haben uns mit ihm auf Spurensuche begeben, um zu erfahren, was hinter der Schlagzeile steckt. Und wir haben Glück: Erst kürzlich hat Stadtarchivar Lukas Schaefer Dokumente dazu für ein Hamburger Museum gesichtet. Um es vorweg zu nehmen: Der Vorfall, der sich vor 70 Jahren bei Lauenburg abspielte, führte damals fast zur Eskalation zwischen Ost und West.
Sowjets schießen gezielt auf den britischen Flieger
Der Monat beginnt schon dramatisch: Am 5. März 1953 rafft ein Gehirnschlag den sowjetischen Diktator Stalin binnen drei Tagen hinweg. Das große Rätselraten um den Nachfolger beginnt. Besteht ein Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und dem Vorfall an der sogenannten Zonengrenze?
Der 12. März 1953 fällt auf einen Donnerstag. Es ist 14 Uhr, die damaligen Kollegen haben die Ausgabe der Lauenburgischen Landeszeitung für den nächsten Tag sicher schon geplant. Sie können nicht ahnen, dass sie wenige Minuten später die die Pläne über den Haufen werfen und Anrufe aus aller Welt entgegennehmen werden.
Eine halbe Stunde später wird die Stadt von einer Explosion erschüttert. Berichte von Augenzeugen verbreiten sich schnell: Die Sowjets haben ein britisches Militärflugzeug abgeschossen. Genaueres erfahren die Leser der Lauenburgischen Landeszeitung am nächsten Tag: „Ein viermotoriger britischer Lincoln-Bomber, der sich auf einem Übungsflug befand, wurde gestern gegen 14.33 Uhr von zwei sowjetischen Düsenjägern des Typs MIG 15 aus Bordkanonen und MGs angegriffen.“ Der Vorfall habe sich auf westdeutschen Gebiet bei Bleckede, also im Luftkorridor Hamburg-Berlin, ereignet.
In der Redaktion steht das Telefon nicht still
Polizeiwachtmeister Gollmann aus Bleckede schilderte den Vorfall, der auch aus Lauenburg zu beobachten war: „Wir sahen leichte Kondensstreifen aus der Sowjetzone herüberkommen und über Bleckede hinwegziehen. Gleichzeitig fielen Schüsse. Drei Besatzungsmitglieder sprangen aus der brennenden Maschine. Offenbar wurden sie auch beschossen.“ Tatsächlich stellte man fest, dass einer der Fallschirme ein Einschussloch hatte. Die Trümmerteile des Fliegers fand man später in einem Waldstück bei Horst. Von den sieben Besatzungsmitgliedern sterben vier in der brennenden Maschine. Auch die drei Männer, die den Absprung versucht haben, erliegen später ihren schweren Verletzungen.
In der Redaktion steht das Telefon an diesem Nachmittag nicht still. „Unser arbeitsames romantisches Städtchen für Stunden am Puls der Zeit. Unsere Aufgaben hier: Nackte Tatsachen, kühl beobachtet, schnell und präzis weiterzugeben. Dazu kleine Einzelheiten, die dem weit entfernten Reporter die Atmosphäre vermitteln sollen. Eine nichts ahnende Bevölkerung, aufgeschreckt durch die kurzen Stöße von Bordkanonen, die widersinnige Zonengrenze, aus der Bordkanone, kurzer geografischer Lagebericht“, scheibt der Redakteur.
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Nervenkrieg zwischen Ost und West spitzt sich zu
Die Briten reagieren sofort. Panzerspähwagen fahren wenige Minuten nach dem Abschuss an den Elbufern Streife. Zwei Stunden später kreist eine britische Dakota-Maschine über der Abschussstelle. Das britische Außenministerium kommt zusammen, um die Lage zu erörtern. Bei der sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland geht ein scharfes Protestschreiben der britischen Regierung ein.
Auch Washington reagiert auf den Angriff der Sowjets auf den britischen Bomber empört. „Niemand kann erwarten, dass wir sie ohne Gegenwehr in unser Gebiet einfallen lassen“, sagte ein Sprecher des Repräsentantenhauses. Die Amerikaner vermuten, dass Georgi Maximilianowitsch Malenkow, der vor ein paar Tagen die Nachfolge von Stalin angetreten hat, mit den Säbeln rasseln will. Nach Abwägung aller Umstände entscheiden sich die Westalliierten schließlich, auf einen militärischen Gegenschlag zu verzichten.
Wrackteile werden über Lauenburg abtransportiert
Nach ein paar Tagen beruhigt sich die Lage in Lauenburg wieder etwas. Man geht zur Tagesordnung über. Die Lauenburgische Landeszeitung berichtet über dies und das aus der Schifferstadt. Die Ausgabe vom 19. März 1953 rückt den dramatischen Angriff der Sowjets aber wieder in den Mittelpunkt der Berichterstattung.
„Es war genau 6.57 Uhr. Ein Zollbeamter hob den Lauenburger Schlagbaum. Dann rollt die Kolonne der Royal Air Force in die russische Zone, um die Trümmer des Flugzeugs einzusammeln, das am Donnerstag voriger Woche von russischen Jägern abgeschossen worden war. Voran zwei Personenwagen mit höheren Offizieren, dahinter zwei Spezialtiefladefahrzeuge, drei verschlossene Lastkraftwagen und als ,Schlusslicht’ ein Kranfahrzeug“, schreibt die Zeitung.
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was die Lauenburger empfunden haben, als der traurige Zug Stunden später den gleichen Weg zurück nahm. Etwas zu theatralisch schreibt der Redakteur: „Die Lauenburger selbst konnten sich von jenem Flugzeug überzeugen, das den Namen Lauenburg durch die Weltpresse und den Weltrundfunk zu einem Begriff und berühmt gemacht hat.“
Wahrscheinlich ging es den Lauenburgern vor 70 Jahren gar nicht um Berühmtheit. Vielen wird durch den dramatischen Zwischenfall am 12. März 1953 erst bewusst geworden sein, dass die Lage der Stadt an der Zonengrenze viel politischen Sprengstoff in sich birgt. Ob der Kalte Krieg wirklich kalt bleiben würde, schien plötzlich nicht mehr sicher.