Wer wird Nachfolger Stalins? Das ist die zentrale Frage, die heute die Welt bewegt. Moskau hüllt sich in Schweigen. Eine verbindliche Aussage ist nicht möglich. Die augenblickliche Machtverteilung im innersten Führungskreis der russischen KP mag aber immerhin einige Aufschlüsse geben.

Die Weltpresse ist bereits voll von wilden Spekulationen über die möglichen Folgen des Abtretens Stalins von der politischen Bühne. Viele glauben an einen heftigen Machtkampf unter den Großen des Regims oder gar an eine mögliche Flucht in außenpolitische Abenteuer. Man darf solche Überlegungen, die von geringem realpolitischen Nutzen sind, beiseite lassen. Gewiß wird ein Herrschaftssystem in den Grundfesten erschüttert, wenn einem Diktator die Zügel entgleiten. Und Stalin erscheint wie ein Riese unter den Diktatoren der Weltgeschichte. Dennoch: Stalin hinterläßt einen wohlorganisierten Partei- und Staatsapparat, der durch ein ausgeklügeltes System sich überschneidender Kontrollen im Gleichgewicht gehalten wird.

Da sind drei Männer, deren Namen Wie Sterne am Sowjethimmel leuchten:

Das Organisationsgenie Malenkow, der mächtige Chef der gepanzerten Le- , gionen, des Spitzelsystems und der Millionen von Zwangsarbeitern des MWD, B e r i j a , und Stalins alter Mitkämpfer und langjähriger Außenminister Molotow. Jeder einzelne dieser Männer, die Stalin bedingungslos ergeben waren, verfügt über mehr Macht als irgendein anderer in der strengen Hirarchie der Sowjetführer.

Der "Truthahn"

Man nennt vielfach den 50jährigen Georgy Malenkow den "roten Kronprinzen". Noch vor dem Krieg war er ein unbekannter Mann in Rußland. Heute hat keiner außer Stalin so viele Schlüsselstellungen in den verschiedenen Führungsgremien der Partei inne wie er. Als Sekretär des Zentralkomitees kontrolliert er vor allem den riesigen Parteiapparat, dessen Mechanismus bis in die entfernteste Ecke der Sowjetunion

95 60 5-35 52044987-300 6.2-1.60.8 Verschärft sich der Konflikt?

Sttthl und Kohle bestimmen das Kriegspotential einer Nation. Kann die Sowjetunion bei dem oben dargestellten Verhältnis der Wirtschaftskraft an einem "heißen Krieg" interessiert sein? Das Bild wird noch deutlicher durch einen Vergleich des "Menschenpotentials", wenn man so sagen darf: Rußland 200 Millionen Einwohner, Ostblockstaaten (ohne Sowjetzone) 66 Millionen, Westeuropa 224 Millionen, USA 160 Millionen. Die Sowjetunion war bisher nie bereit, sich dem Risiko einer Katastrophe

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wirkt und dessen Fäden bis in die kommunistischen Zellen aller fünf Erdteile reichen.

Über Malenkow» Herkunft ist wenig bekannt. 1902 wurde er in Orenburg am Uralfluß geboren ? ein Kind bürger-

licher Eltern, wie es heißt. Als 1917 die Revolution ausbrach, drückte der Fünfzehnjährige noch die Schulbank. Er schloß sich aber schon ein Jahr später der Roten Armee an. Mit 20 Jahren war er Leiter der politischen Abteilung der Turkestan-Armee. Er tat also bereits das, was später sein "Beruf" werden sollte: Er kontrollierte und säuberte. Die weitere Karriere machte er hinter den Kulissen. Er war nie ein Mann der Bühne.

1925 gelang Malenkow der Vorstoß in den innersten Zirkel: Er wurde einer der Privatsekretäre Stalins. 1941, beim deutschen Angriff, nahm er die entscheidenden Stufen zur Macht. Er wurde Mitglied des Politbüros und des Organisationsbüros, sowie Chef der Verwaltung der aktivistischen Kader-Gruppen der Partei; ferner stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats. Er beherrschte die gesamte Schwer- und Rüstungsindustrie.

Die Genossen nennen Malenkow den "Truthahn des Kreml". Er ist dick, ungeschlacht und er gibt sich in seinem Russenhemd (das Stalin seit langem nicht mehr trug) als "gemütlicher Choleriker". Ein kalter, nüchterner Rechner und Karthotekenspezialist mit einem unwahrscheinlichen Gedächtnis. Joviales Doppelkinn und harte, stahlblaue Augen. Ein ausländischer Diplomat hat einmal gesagt, Malenkow wäre der allerletzte Mensch auf Erden, den er sich als Folterknecht auserwählen wurde.

Nun, Malenkow hat sich im Kreml durchgesetzt. Als einzigen "Freund" wählte er sich den ein wenig professoral aussehenden kühlen Mann, der das eigentliche Werkzeug der Macht in Händen hielt: Berija, den Chef der Geheimen Staatspolizei . . .

Feind der Doktrinäre

Das Gehirn des großen Organisators war nie erfüllt von Idiologien. 1946 wagte er es sogar, in einer öffentlichen Rede die Doktrinäre direkt anzugreifen: "Wir haben hier Leute ? man nennt sie zurecht Bücherwürmer ? die für jede Gelegenheit Marx- und Engelszitate bereit halten, statt sich die Mühe zu nehmen, sich etwas Neues auszudenken oder aus der Erfahrung zu lernen. Sie haben auf jede Initiative nur eine Antwort ,Nein, das hat Marx nicht gesagt' und .Engels meinte das anders' "...

Die Kühnheit hätte einem andern vielleicht den Kopf gekostet. Schdanow, der damals als der einflußreichste Mann

im inneren Kreis alle Aussichten auf die Nachfolge Stalins zu haben schien, führte gerade einen scharfen Kampf, um nach den idiologischen Abweichungen der Kriegsjahre die "orthodoxe Doktrin" wieder herzustellen. Malenkow rückte vorübergehend etwas in den Schatten. Aber mit Berija an seiner Seite und mit Stalins Vertrauen konnte ihn selbst Schdanow nicht aus dem Sattel heben.

1948 starb Schdanow dann überraschend. Die vor kurzem verhafteten Sowjetärzte sollen ihn, nach Moskauer Version, ?zu Tode behandelt** haben. Er war Malenkows großer Rivale . . ?

Der "Sitzriese"

Verglichen mit der Machtfülle Malenkows und Berijas erscheint Molotows Position nicht allzu stark. Jahre hindurch rangierte der "nächste Mitkämpfer Stalins" als Mann Nr. 2 in der Sowjethirarchie. Aber es scheint, als habe die jüngere Generation, die in der bolschewistischen Idiologie groß geworden ist, die alten Revolutionäre überholt.

Molotows Karriere war wenig aufregend. Er ist der unermüdliche Sitzriese, der Aktenbewältiger des Kreml. Er Ein Militär stieß in diesen Tagen in der Sowjethierarchie nach vorn: Marschall Sokolowski. Von 1946 bis 1948 war er Militärbefehlshaber in der Sowjetzone diente sich am Schreibtisch hoch. Der zynische Sowjetintellektuelle Radek, der einer Säuberungswelle zum Opfer fiel, nannte ihn einmal den "Mann mit dem steinernen Hintern". Bezeichnend dafür, wie Molotow sich selbst einschätzt, ist eine Antwort, die er vor 30 Jahren dem genialen Stürmer und Schöpfer der Roten Armee Trotzki gab: "Es kann nicht jeder ein Genie sein, Genosse Trotzki, aber wir werden sehen, wer sich schließlich durchsetzt".

Der "seßhafte" Molotow, der 1939 mit Ribbentrop die Polen-Teilung arrangierte, hat sich durchgesetzt. Er überdauerte alle Säuberungsaktionen und Prozesse. Aber seine Beziehungen zu Malenkow scheinen nicht die allerbesten. Durch ihn verlor Frau Molotow ihren schönen Posten als Direktorin des Kosmetik-Trusts und der Fischindustrie. Dabei war die eleganteste Dame der Sowjetunion (der Molotow einen guten Teil seiner Karriere verdanken soll) die einzige Frau im Kreml, die ungehindert bis zu Stalin vordringen konnte.

Es wäre dennoch denkbar, daß der trockene "Buchhalter" bei einer Rivalität der Mächtigen als unbedenklichster Kandidat für die formelle Nachfolgeschaft Stalins betrachtet werden könnte.

Wer aber das Rennen auch machen mag: Bei dem gewaltigen Einfluß des kühlen Realpolitikers Malenkow ist es nicht wahrscheinlich, daß die Welt mit sowjetischen Abenteuern zu rechnen haben wird. Der bienenfleißige Arbeiter, der täglich bis spät in die Nacht hinein

am Schreibtisch sitzt und Unmengen von starken Zigaretten raucht, wird die Nerven nicht verlieren. Ob Stalins Testament ihn allein oder vielleicht das (ungleiche) Triumvirat Malenkow-Molotow* Berija mit der Nachfolge betraut, mag nicht gar so wichtig sein. Wenn nicht alles täuscht, wird die Welt auf absehbare Zeit mit der Weiterführung des "kalten Krieges", aber nicht mit "heißem Krieg" zu rechnen haben. Der letzte allsowjetische Parteikongreß im Oktober 1952 hat jedenfalls die Marschziele in dieser Richtung gesteckt.

Die große Unbekannte

Freilich: Wenn ein Diktator von den Dimensionen Stalins abtritt, kann vieles geschehen, was sich nicht vorausberechnen läßt. Es gibt keinen, dem sein Herrschergewand richtig paßt. Und man sollte eine große Unbekannte nicht übersehen: Die RoteArmee, die Clique der siegreichen Marschälle des zweiten Weltkrieges, die 1945 populärer waren, als es selbst Stalin lieb war. Der Diktator hatte gute Gründe, rasch die Marschallsuniform anzuziehen, die Gloriole des Sieges dem ganzen Volk sichtbar um das eigene Haupt zu legen und die allzu eigenwilligen Heerführer ?wie den fähigen Eroberer Berlins, Schukow ? demonstrativ in den Schatten zu stellen ... M. S.