Wentorf. Der 52-Jährige alias DAIM begann schon mit 17 Jahren mit der Sprühdose zu malen. Heute sind seine Werke international berühmt.

Der Titel der Ausstellung im Woods Art Institute (WAI) „Retrospective – 35 Years of Graffiti Art“ scheint widersprüchlich. Denn gewöhnlich ist Graffiti-Kunst vergänglich, wird, so sie denn Gebäude oder Wände als Leinwand nutzt, oft schon nach Tagen entfernt, übermalt oder verschwindet durch Witterungseinflüsse von selbst. Dass Street-art-Kunstwerke aber erhalten bleiben und ein privater Kunstsammler über so viele Jahre die Werke eines Graffiti-Künstlers sammelt, ist ein seltener Glücksfall.

Der Sammler Rik Reinking zeigt an der Golfstraße ab 9. Mai einen Ausschnitt aus dem Werk des Hamburgers Mirko Reisser (52), der Szene besser bekannt als „DAIM“, der vom jungen Sprüher zum international gefragten Künstler aufgestiegen ist – und das höchste Wandgemälde der Welt gesprüht hat.

Rückschau auf 35 Jahre Graffiti-Kunst im Woods Art Institute

Gerade wird die Rückschau aufgebaut: Etwa 80 Arbeiten des Hamburger Künstlers werden auf 1800 Quadratmetern zu sehen sein. Mirko Reisser arbeitet dort gerade an einem vier mal 10,50 Meter großen Wandgemälde namens „DAIM Comingout WAI“. So spontan wie die Graffiti wirken, sind sie jedoch nicht: Damit so ein Wandbild sitzt, bedarf es präziser Planung, erläutert der 52-Jährige. Bevor er sie mit der Sprühdose umsetzt, zeichnet der Künstler eine Bleistiftskizze, den Farbentwurf arbeitet er am PC aus.

So wie das Graffito den Raum zu sprengen scheint, hat auch der Künstler im Laufe seines Lebens immer wieder die vermeintlichen Grenzen seines Genres überschritten und neu ausgelotet. „Ich hatte das Glück, dass ich relativ schnell erwischt worden bin“, stellt Mirko Reisser fest.

„DAIM im Wasser“ ist das erste Werk von Mirko Reisser, das der Kunstsammler Rik Reinking aufgekauft hat. Früher hing es in einem Café an der Uni Hamburg.
„DAIM im Wasser“ ist das erste Werk von Mirko Reisser, das der Kunstsammler Rik Reinking aufgekauft hat. Früher hing es in einem Café an der Uni Hamburg. © Susanne Tamm | Susanne Tamm

Inspiriert vom Hip-Hop der 80er-Jahre, begann er noch in seiner Schulzeit am Osdorfer Born in Hamburg „eigentlich spät, mit 17 Jahren“, mit dem illegalen Besprühen von Hauswänden. „Man konnte in den 80er-Jahren zuerst nicht legal sprühen“, sagt er. Graffiti galt als Geschmiere und Sachbeschädigung, nicht als Kunst. Schon beim zweiten oder dritten Mal habe ihn die Polizei erwischt.

Kunsthochschule in Hamburg lehnt ihn ab

Doch Lehrer und Eltern, ebenfalls Lehrer, hatten Verständnis. „Dadurch bekam ich die Gelegenheit, an der Fritz-Schumacher-Gesamtschule eine Leinwand zu besprühen“, erzählt Mirko Reisser. „Die existiert heute noch, ein Teil davon ist im WAI zu sehen.“ Die Ausstellung zeichnet seinen Werdegang nach und ist chronologisch aufgebaut. Im ersten Raum sind frühe Skizzen und alte Fotos aus dem Besitz des Künstlers zu sehen. „In der ersten Zeit habe ich jede Sprühmöglichkeit genutzt“, sagt er. Parallel habe er auf Leinwand und legal auf Wänden gearbeitet. So seien relativ viele Graffiti erhalten geblieben.

Reisser machte Abitur, erhielt früh erste Aufträge. „Ich lebe schon mein ganzes Leben vom Sprühen“, erzählt der Spraykünstler. „Trotzdem habe ich mit dem Gedanken gespielt, Kunst zu studieren.“ Die Hochschule für bildende Künste in Hamburg lehnte ihn jedoch ab.

Der Künstlername ist Programm

Bis 1991 nennt er sich noch CAZA nach einem französischen Comiczeichner. Er lacht: „Da musste ich erst draufkommen, dass das nicht so schlau war, sich als Künstler nach einem anderen Künstler zu benennen.“ Seit 1991 malt er als „DAIM“ und stellt klar: „Das hat nichts mit dem Schokoriegel zu tun. Ich brauchte einen Namen mit Buchstaben, die gut aussehen.“

Der Eingang zum Woods Art Institute an der Golfstraße zeigt sich zurzeit frühlingshaft.
Der Eingang zum Woods Art Institute an der Golfstraße zeigt sich zurzeit frühlingshaft. © Susanne Tamm | Susanne Tamm

Denn das Motiv des Schriftzugs des eigenen Namens ist einer der Standards der klassischen Graffiti-Kunst – einer, an dem selbst Mirko Reisser lange festgehalten hat. „Mir gefällt das bauchige ‚D‘, die Stabilität sowohl des ‚A‘ als auch des ‚M‘“, erläutert DAIM die Vorzüge des von ihm gewählten Künstlernamens.

Mit 24 Jahren studiert er freie Kunst

Der Künstler führt selbst durch die Ausstellung. In seiner Arbeitskluft, mit farbbesprenkeltem Hoodie und Basecap führt er zügig von Raum zu Raum. „Ein schrecklich netter Kerl“, sagt Sammler Rik Reinking über ihn, „dessen Werken man anmerkt, dass er Kunst studiert hat.“

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Schon vor dem Studium der Freien Kunst in der Schweiz beginnt Reisser, die Konventionen seines Genres bewusst zu brechen: Zuerst lässt er als einer der Ersten der Welt die vom Comic inspirierten, klassischen Konturen, die „Outline“ weg. Seine Buchstaben werden immer plastischer. 1996 geht er zum Studieren nach Luzern, wo er zwar optimale Bedingungen vorfindet, sich ausprobieren darf, aber auch Überzeugungsarbeit für seine Kunst leisten muss: „Plötzlich hatte ich Werkzeug, Platz und Möglichkeiten“, berichtet er.

DAIM holt internationale Stars der Szene nach Hamburg

Die schöpft Mirko Reisser aus, setzt dort seinen Namen erstmals tatsächlich dreidimensional als Holzskulptur um. „Ich hatte schon sieben Jahre lang meinen Namen gesprüht und musste mir zum ersten Mal Gedanken machen, wie die Rückseite aussehen soll.“ Die Skulptur ist ebenso wie Plastiken, Reliefs und Gemälde, die im Studium entstanden sind, nun in Wentorf zu sehen. Aber ebenso wie er sein Motiv mit neuen Techniken erprobt, erkundet er klassische, Graffiti-untypische Sujets mit der Sprühflasche, wie Landschaftsmalerei oder Stillleben.

1998 ist Mirko Reisser nach Hamburg zurückgekehrt. „Ich hatte einen Riesenberg Leinwände und Objekte“, erinnert er sich. „Doch wie sollte ich das präsentieren? Es gab keine professionelle Struktur, keine Galerie, um Graffiti auszustellen.“ Gemeinsam mit Gleichgesinnten hat er schließlich drei Jahre lang erfolgreich die Ausstellungen der Urban Discipline-Reihe in der Bavaria-Brauerei als Künstlerkollektiv getting-up kuratiert, etwa den New Yorker Streetart-Künstler Banksy nach Hamburg eingeladen – lange bevor der bekannt geworden war. „Irgendwann war das aber ein Fulltime-Job geworden und ich wollte doch sprühen“, sagt Mirko Reisser. „Ich musste mich also entscheiden.“

Das höchste Wandgemälde der Welt ist von DAIM

Zuvor hatte er noch beides vereint, wurde weltweit bekannt. „Die Szene ist international“, erklärt der Hamburger. Reisser war und ist im Austausch mit Künstlern aus Brasilien, England, Neuseeland und Australien. Einzelne seiner Wand-Graffiti sind in der Ausstellung als Fotos zu sehen. Ein frühes Werk in Lohbrügge hat es 1996 mit 15 Metern als damals höchstes Gemälde ins Guinessbuch der Rekorde geschafft (Otto-Schumann-Weg 4b). Den Rekord hat er längst selbst übertroffen. Sein höchstes Bild ist mit 96 Metern das weltweit höchste existierende Wandgemälde. Er hat es 2022 in Calgary mit vier Assistenten realisiert.

Im WAI lässt sich nachvollziehen, wie Reisser mit der Zeit seinen „3D-Stil“ gefunden, sein Spiel mit dem bewussten Einsatz der No-gos im Graffiti perfektioniert hat: Er setzt Spritzer, Tropfen oder pinselartige Striche ein, lässt die Buchstaben in alle Richtungen auseinanderstieben, löst sich zeitweise sogar ganz von ihnen. Gleichzeitig sprüht er die Farbe ähnlich den alten Meistern in bis zu sieben Schichten auf. Manchmal ersetzt er das ‚A‘ durch ein ‚E‘. Außerdem experimentiert er weiter mit Techniken, verwendet farbiges Klebeband statt Sprühfarbe, Aluminium-Platten statt Leinwand. Mit dynamischen Formen, weichen Übergängen, aber auch abgeklebten, harten Kanten schafft Mirko Reisser sein eigenes Graffiti-Universum.

Der Eintritt zur Eröffnung ist frei

Dies alles und noch mehr gibt es ab 9. Mai im WAI zu entdecken. Weitere Werke aus der Sammlung Reinking sind ebenfalls ausgestellt. Zur Eröffnung am Sonntag, 5. Mai, von 11 bis 18 Uhr, sind alle Interessierten willkommen. Informationen und Tickets für 12 Euro (ab 9. Mai) unter woodsartinstitute.com.