Geesthacht. Jens Wrage geht in seine dritte Amtszeit als Schiedsmann. Mit Streit unter Nachbarn kennt er sich aus und wie er sich lösen lässt.

Geesthacht wächst und wächst, hat mittlerweile deutlich über 32.000 Einwohner. Doch die zunehmende Bebauung schlägt den Menschen, die hier wohnen, offenbar nicht aufs Gemüt. „Ob es in engen Verhältnissen zu mehr Streit komme? Das kann ich nicht sagen. Angesichts der Zahl der Einwohner im Verhältnis zu den Fällen, die wir haben, ist das ein ausgesprochen friedfertiges Feld hier“, sagt Jens Wrage.

Er sollte es wissen. Jens Wrage ist einer der beiden Schiedsmänner in Geesthacht. Ein reines Ehrenamt. Vor Kurzem wurde er wiedergewählt und begann zum Jahresanfang seine dritte, immer fünfjährige Amtsperiode. „Auch die Fälle selbst sind nicht so eine kriegerische Auseinandersetzung. Alle regen sich zwar auf, man hat aber nicht den Eindruck, der eine will dem anderen den Schädel einhauen. Insofern finde ich das ganz in Ordnung hier“, sagt der Pensionär.

Geesthachter Schiedsmann sorgt für Frieden in der Stadt

Den ersten Fall des Jahres hat Jens Wrage bereits verhandelt, der zweite liegt schon auf dem Tisch. Es ging um die Vermittlung in einem Streit wegen eines Fallrohres einer Regenrinne, beim anstehenden Fall um Hecken und Büsche, die nahe an einem Zaun stehen sowie um einen Baum. In beiden Fällen sind es Konflikte unter Nachbarn – die Klassiker für die Schiedsleute.

Das größte Risiko für einen Streit unter Nachbarn sei der Generationenwechsel, hat er ausgemacht. Wenn die eine Hälfte des Mehrfamilienhauses nach dem Auszug der alten Bewohner an junge Leute verkauft wurde, und die dann alles anders machen wollten, als die verbliebenen Bewohner der anderen Hälfte es von den Vorgängern gewohnt seien.

Die Verhandlungen sollen die Gerichte entlasten – und Risse kitten

Schiedsleute sollen die Gerichte entlasten. „In Schleswig-Holstein darf man bei bestimmten Angelegenheiten erst klagen, wenn sie vorher einer Schiedsperson vorgelegen haben“, erklärt Jens Wrage. Und es nicht zu einer Einigung kam. Oder sich eine der Parteien nicht an die verhandelte Vereinbarung hält. Aber das sei sehr selten, berichtet Jens Wrage.

Die Verhandlung dient der vor- und außergerichtlichen Klärung in Rechtsstreitigkeiten, zum Beispiel unter Nachbarn wegen überhängender Zweige. Und dazu, den Riss zwischen ihnen noch zu kitten – was bei einem Gerichtsurteil wohl kaum noch möglich wäre. Neben Themen aus dem Nachbarschaftsrecht vermittelt er auch im Strafrecht, da geht es um leichtere Fälle von Körperverletzungen und auch Beleidigungen, wie sie oft bei Beziehungsstreitigkeiten anfallen, um Hausfriedensbruch, Unterschlagungen, üble Nachrede und bellende Hunde in einem Mietshaus.

Über lange Zeit hat sich etwas emotional aufgeladen

Viele Streitigkeiten lassen sich mit ein wenig Entgegenkommen von beiden Seiten zum guten Ende führen. Denn was hilft es, vor Gericht Recht zu bekommen, wenn das Verhältnis zum Nachbarn dabei dauerhaft zerstört wird? „Es gibt bei der Schiedsverhandlung weder Sieger noch Besiegte“, erklärt Jens Wrage seine Aufgabe. Er sieht seine Aufgabe darin, als Moderator zwei Personen „auf ein vernünftiges Niveau herunterzubringen. Die Rechtsfragen sind ja eigentlich nur der Hintergrund“.

Zunächst einmal müsse er Psychologe sein. „Da hat sich emotional etwas aufgeladen über eine lange Zeit. Und irgendwann kocht es über. Da kann es immer mal vorkommen, dass sich bei der Verhandlung jemand im Ton vergreift. Da muss man gleich dazwischenhauen“, sagt er zu seiner Taktik. Und er appelliert an den gesunden Menschenverstand: Dass es der Gesundheit aller zuträglich sei, zu einer Einigung zu kommen. „Ein ganz wichtiger Teil ist, zuzuhören. Nicht erkennen lassen, wie man selbst die Sache einschätzt.“

Lösungen finden, auf die die Kontrahenten noch gar nicht gekommen sind

„Wenn Verhandlungen sind, bestelle ich ein Zimmer im Rathaus, sie sollten auf neutralem Boden stattfinden“, sagt Jens Wrage. Er zieht sich dann sein Sakko an, bietet den Parteien Gelegenheit, sich auszusprechen und baut Spannungen ab. Die Streithähne dürfen eine Vertrauensperson mitbringen und – sofern vorhanden – ihren Rechtsbeistand. Manchen Anwälten müsse er klarmachen, dass sie nicht vor Gericht seien. Besonders denen aus Hamburg. Dort gibt es das Amt der Schiedsperson nicht. „Ich kann ihnen auch das Wort entziehen“, sagt Jens Wrage.

Er versucht, Lösungen aufzuzeigen, an die die Kontrahenten womöglich noch nicht gedacht haben. Für eine erfolgreiche Verhandlung gibt es regelmäßig Schulungen durch den Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen (BDS). Für den Durchblick in der Welt der Paragrafen sorgen ehemalige, pensionierte Richter, für die Psychologie der Rhetorik professionelle Mediatoren. Und die monatlich erscheinende Schiedsamtszeitung berichtet über interessante Fälle und mögliche Lösungen.

Ein perfekter Deal: Ein Mann darf weiter grillen – nur anders

Kommt man zu einer Einigung, wird ein Vergleich aufgesetzt, die Kontrahenten unterschreiben. Er ist dann rechtswirksam und 30 Jahre gültig. Der perfekte Deal sieht so aus wie bei einem Fall aus einem Mietshaus. Ein Mann grillte oft mit Holzkohle auf dem Balkon. Der Rauch zog in das Zimmer der Mieterin über ihm. Der Vermieter unternahm nichts, der Streit landete beim Schiedsmann. Der pragmatische Kompromiss: Der Mann brät sein Essen jetzt auf einem Gasgrill. Das hat die Frau akzeptiert. Das Annehmen von Geschenken für eine Einigung ist übrigens verpönt. Es könnte nach Bestechung aussehen.

Aber nicht jeder Fall ist lösbar. „Es ging um Beleidigungen unter Nachbarn, ein Wort gab das andere“, erzählt Jens Wrage. Eine Einigung mit gegenseitigen Entschuldigungen stand kurz bevor, scheiterte im letzten Moment. „Er sei ein bisschen mehr beleidigt worden als sein Gegenüber, gab einer der Kontrahenten als Grund für die Ablehnung einer Einigung an. „Sein Anwalt sah da nicht glücklich aus“, erinnert sich Jens Wrage.

Welcher Schiedsmann zuständig ist, hängt vom Straßenverzeichnis ab

Wer sich im Fall der Fälle an welchen Schiedsmann wendet, hängt vom Straßenverzeichnis ab. Entscheidend ist dabei nicht der Wohnsitz desjenigen, der den Antrag stellt, sondern des Gegners. Das kann im Falle einer Beleidigung auch mal räumlich weit getrennt sein. Und wenn es ein anderer Kreis oder Stadt ist, wird der Fall abgegeben.

Geesthacht hat nur zwei Schiedsamtsbezirke. Die Bereiche Grünhof-Tesperhude, Krümmel, Oberstadt und der Bereich östlich des Geesthachter Rathauses bilden den Schiedsamtsbezirk 1, die anderen Bereiche den Schiedsamtsbezirk 2. Für den ist Michael Backs zuständig. Beide Schiedsmänner wohnen jeweils im Bezirk des anderen.

Lieber nicht bei den eigenen Nachbarn schlichten müssen

Jens Wrage findet das auch gut so. Er hat zusammen mit seiner Frau vor neun Jahren eine Wohnung in der Hafencity bezogen, schaut direkt aufs Wasser. Bis zum Umzug wohnte er in Grünhof-Tesperhude. Und da hatte er dann schon mal bei seinen offiziellen Schlichtungen mit Nachbarn zu tun. Da war ihm dann doch komisch zumute.

Wer eine Schiedsperson benötigt, schreibt sie an, schildert den Fall. Jens Wrage setzt dann einen Termin an, stellt die Ansetzung meist per Fahrrad selbst zu. Die Sicht des Antragstellers kennt er, was der andere für ein Mensch ist, weiß er erst, wenn er vor ihm sitzt. Und ist oft überrascht: „Der schildert dann einen ganz anderen Fall. Das ist immer wieder neu und spannend“, sagt er.

Was tun, wenn man einen der Kontrahenten duzt?

Die Antragsteller zahlen einen Kostenvorschuss in Höhe von 70 Euro. Bleibt nach Abzug der Auslagen etwas übrig, wird zurücküberwiesen. Die Schiedsperson setzt dann einen Termin fest, an dem sich die Parteien treffen. Verhandelt wird ausschließlich mündlich.

Natürlich hat er bei Verhandlungen manchmal weiterhin mit Menschen zu tun, die er kennt. Jens Wrage ist ein Geesthachter Urgestein, das bleibt da nicht aus. Der ehemalige Finanzbeamte und Vorstand der Hadag ist unter anderem seit 55 Jahren Mitglied im Ortsverein der SPD und ehemaliges Mitglied der Ratsversammlung. In ungefähr zehn Prozent der Fälle sei das so, sagt er. „Wundern Sie sich nicht, dass wir uns duzen“, erklärt er dann dem anderen Klienten. Aus Befangenheit abgelehnt zu werden, ist zwar möglich, aber trotzdem noch nicht vorgekommen.

Eine Erfolgsquote von bis zu Dreiviertel der Fälle

In den vergangenen Jahren hat er insgesamt gut 100 Fälle verhandelt. Insgesamt schätzt er die Erfolgsquote, den Gang vor den Kadi zu verhindern, auf Zweidrittel bis Dreiviertel der Fälle. „Eine relativ gute Quote“, findet Jens Wrage. Termine bei ihm zu bekommen ginge schnell, verspricht er – „quasi auf Zuruf“. Innerhalb von drei Monaten muss ein Fall abgeschlossen sein. Sollte er verreist sein oder für längere Zeit ausfallen, springt Michael Backs ein. Und umgekehrt. Die beiden vertreten sich ganz offiziell.

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Seine Tätigkeit habe ihn selbst zu einem besseren Nachbarn gemacht, meint Jens Wrage. „Das Reflektieren über das eigene Verhalten wird größer. Wenn ich das so oder so mache, könnte das Ärger geben. Also lass es“, sage er sich dann. Ob er in fünf Jahren noch einmal zur Wahl antreten wird, vermag Jens Wrage noch nicht sagen. „Ich werde in diesem Jahr 80. Solange ich die Ladungsbriefe verteilen kann, solange mache ich das“, verspricht er aber. Das könnte klar gehen – er fährt mittlerweile E-Bike.