Geesthacht. Unser Redakteur ist eine Schicht mit Rouven von Holten und Notfallsanitäter Steve Trebbin von der neuen Rettungswache aus mitgefahren.
Um 7.53 Uhr schlägt der Melder an meinem Gürtel das erste Mal Alarm. Jetzt heißt es: Alles stehen und liegen lassen und nur noch schnell die Sicherheitsschuhe in der Schleuse anziehen. Notarzt Rouven von Holten und Rettungssanitäter Steve Trebbin bleiben 60 Sekunden, bis sie von der neuen Rettungswache am Johanniter-Krankenhaus Geesthacht ausgerückt sein müssen. „Bei einer so großen Wache wie der neuen hier, ist das schon eine Herausforderung“, räumt Trebbin ein. Während ihrer heutigen Schicht auf dem NEF 10-82-1 werden sie von mir als Redakteur begleitet. Jeder von uns ist mit einem Pieper ausgestattet, der speziell für das Fahrzeug gilt.
Während wir im Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) mit Blaulicht durch Geesthacht rasen, erklärt Trebbin, was uns erwartet. Er ist einer von vier Bereichsleitern der Herzogtum Lauenburg Rettungsgesellschaft (kurz HLR) an den Standorten Geesthacht und Lauenburg. Die Besatzung eines Rettungswagens hat den Notarzt zur Unterstützung angefordert, weil sich der Zustand eines 64-jährigen Patienten vor Ort als ernster entpuppte, als die in der Leitstelle Bad Oldesloe eingegangene Alarmierung vermuten ließ. Das Herz des Mannes schlug viel zu langsam, der Blutdruck war besorgniserregend tief, der Kreislauf im Keller.
Eine Schicht auf der neuen Rettungswache
Der Weg für den Notarzt ist nicht weit. Es geht innerhalb Geesthachts in die HEW-Siedlung. „Dirk, wo wohnst du?“ erkundigt sich Trebbin. Zum ersten Mal wird mir bewusst, worauf ich mich eingelassen habe. „Was ist, wenn ich den Patienten kenne? Wie komme ich dann mit der Situation klar?“ Auf Blut und Menschen in Ausnahmesituationen war ich gedanklich vorbereitet. Doch diese Option hatte ich vorab nicht in Betracht gezogen. Ich kenne den Mann zum Glück nicht.
„Der Job ist nicht jedermanns Sache. Man darf das nicht unterschätzen, wenn man zu Menschen in Notlage nach Hause kommt. Das ist etwas anderes als eine sterile Atmosphäre im Krankenhaus. Ich mache das aber gerne“, sagt Rouven von Holten. Seit 2010 ist der 41-jährige Notfallmediziner, dafür benötigen Ärzte eine spezielle Zusatzausbildung.
Der Patient sitzt in Schlafanzug am Frühstückstisch und ist ansprechbar. Er berichtet von den Kreislaufproblemen und kaltem Schweiß. Ein Angehöriger hält den Inhalt einer Infusion in die Höhe, die dem 64-Jährigen gelegt wurde. Sanitäter und Notarzt besprechen die Lage. Sie tragen eine Gesichtsmaske, weil der Patient Erkältungssymptome zeigt. Einen Corona-Test hat er nicht gemacht. Der letzte Arztbesuch liegt ebenfalls weit in der Vergangenheit. Von Holten beschließt auf dem Weg ins Geesthachter Krankenhaus mitzufahren. Einen Herzinfarkt kann er nicht ausschließen.
Hubschrauber Christoph Hansa springt ein
Steve Trebbin meldet das NEF 10-82-1 solange bei der Leitstelle Bad Oldesloe ab. Die erste Zahl steht dabei für den Ort (Geesthacht), die zweite für die Art des Rettungswagens, die letzte ist die Nummerierung. Zur Verdeutlichung: Die drei in Geesthacht stationierten Rettungswagen (RTW) tragen die Nummern 10-83-1 bis 10-83-3. Dazu kommt ein Fahrzeug für Krankentransporte am Standort Geesthacht (KTW, 10-84-1). Davon sind das NEF und zwei RTW rund um die Uhr besetzt.
Weitere Rettungswagen der HLR sind in Lauenburg und Basedow stationiert. Damit soll die Einhaltung der Hilfsfrist gewährleistet werden. Die besagt, dass Ersthelfer in 90 Prozent der Fälle innerhalb von zwölf Minuten vor Ort sein müssen. Für Notärzte gilt diese Zeitspanne nicht. Im Herzogtum Lauenburg sind tagsüber immer drei auf Abruf bereit: einer in Mölln, einer in Ratzeburg und einer in Geesthacht. Wer alarmiert wird, entscheidet der Disponent in der Leitstelle.
Während Trebbin im NEF hinter dem Rettungswagen her fährt, kommt ein weiterer Einsatz bei Schwarzenbek herein. „Weil wir gebunden sind, übernimmt da jetzt Christoph Hansa, also der Rettungshubschrauber von der BG Klinik in Boberg“, erklärt Steve Trebbin. Im südlichen Teil des Herzogtums ist für die Retter viel zu tun. „40 Prozent der Einsätze fährt die HLR von Geesthacht und Lauenburg aus“, so Trebbin. 2021 rückte der Notarzt von Geesthacht aus rund 1900 Mal aus, die Rettungswagen waren 7200 Mal im Einsatz, der Krankenwagen etwa 1400 Mal.
Rouven von Holten ist Chefarzt im Johanniter-Krankenhaus
Derweil übergibt Rouven von Holten – er ist mit dem Leiter der HLR, Martin von Holten, weder verwandt oder verschwägert – den Patienten um 8.30 Uhr, also 37 Minuten nach der Alarmierung, in der Notaufnahme ans Geesthachter Krankenhaus. Bradykardie (verlangsamter Herzschlag) lautet die Diagnose, steht auch am Monitor in der Notaufnahme. Dort wird die Ankunft des Patienten elektronisch angekündigt. Später stellt sich heraus, dass der Mann coronapositiv ist. Der verschleppte Infekt könnte Auslöser für seine Probleme gewesen sein.
Nicht jeder Notarzt muss wissen, was aus seinen Patienten geworden ist. An denjenigen, die nach Geesthacht kommen, hat Rouven von Holten allerdings ein persönliches Interesse. Denn die meisten Tage des Monats arbeitet er auf seiner eigentlichen Stelle als Chefarzt der Abteilungen für Anästhesie, Schmerztherapie und Intensiv- sowie Notfallmedizin. „Als Notarzt mache ich vielleicht noch ein bis drei Schichten im Monat, während meines Studiums waren es in meiner Heimat Buxtehude mehr“, sagt von Holten, der in Altengamme wohnt.
Einsätze bis nach Mecklenburg-Vorpommern
Dass im Krankenhaus beschäftigte Ärzte im NEF Dienst schieben, ist üblich. Die Johanniter haben sich vertraglich verpflichtet, die Versorgung sicherzustellen. Bei der HLR wiederum sind circa 330 Mitarbeiter beschäftigt. Die Tagschicht in Geesthacht hält sich in der einsatzfreien Zeit in dem geräumigen Aufenthaltsraum der 4,6 Millionen Euro teuren neuen Rettungswache auf, die am 5. Oktober in Betrieb genommen wurde. „Die ist echt nett geworden“, sagt Rouven von Holten.
Außer einem großen Esstisch gibt es eine Sofaecke samt Fernseher. Noch ist nicht alles eingerichtet. „Dartscheibe aus der alten Wache an der Pankower Straße holen“, steht an einer Pinnwand. Die Außenstelle in Düneberg und die zu klein gewordene alte Rettungswache am Krankenhaus sind inzwischen aufgegeben. Im Neubau gibt es für jeden Mitarbeiter einen separaten Ruheraum mit Bett und Fernseher. Nachts sollen die Retter übrigens spätestens 90 Sekunden nach dem Alarm ausrücken.
Die Zeiten, in denen Notärzte alleine und mit einem schnellen Auto fuhren, sind inzwischen vorbei. „Wir müssen inzwischen zu viele Sachen dabei haben und benötigen für Praktikanten oder dich, drei Sitzplätze“, sagt Trebbin, der stets am Steuer des VW-Kleintransporters sitzt. Die Fahrten führen sie bis Büchen, Lauenburg und mitunter auch nach Reinbek, Mecklenburg-Vorpommern sowie häufig in die Dörfer auf der anderen Elbseite. Letztere Ziele werden angesteuert, wenn gerade kein anderer Notarzt verfügbar ist.
Von Holten: „Man nimmt es nicht nach Hause. Aber die Bilder bleiben.“
„Ankommen ist das Ziel“, sagt Rouven von Holten. Die Fahrt mit Blaulicht, sogenannte Sonderrechtsfahrten, seien anspruchsvoll genug. „Mehr als ein abgefahrener Seitenspiegel, das war noch zu meiner Zeit in Buxtehude, war das Schlimmste, was passiert ist. Ich bin aber nicht gefahren“, sagt Rouven von Holten. Die Kunst nach den Einsätzen sei es, das Erlebte nicht mit nach Hause zu nehmen. „Ein Kind reanimieren zu müssen, darauf kann jeder von uns verzichten. Besonders ich als Vater von zwei Kindern.“ Aber, so von Holten: „Die Bilder bleiben trotzdem drin.“
Und sind manchmal plötzlich wieder da. „2018 hatte ich einen Patienten auf der Intensivstation, der von der Rehaklinik Edmundsthal zu uns kam und seit Jahren im Wachkoma lag. Irgendwie kam mir der Name bekannt vor“, erinnert sich von Holten. Später machte es dann klick: „Zehn Jahre vorher war ich als Notarzt bei einem Verkehrsunfall, bei dem drei junge Menschen gestorben sind. Nur einer hatte überlebt. Der Patient von der Intensiv. Das war dann schon ein komisches Gefühl, wenn man sieht, was aus ihm geworden ist. Aber eine ethische Bewertung steht uns als Ärzten nicht zu“, sagt von Holten.
Fahrer steuert die Sirene mit dem linken Fuß
Während Steve Trebbin und er am Montag auf der Schicht sechsmal unterwegs waren und ab dem Mittag gar nicht mehr zurück zur Wache kamen, ist die Schicht mit mir ruhig. „Sag das nicht so laut. Sowas spricht man nicht aus“, werde ich von einer Rettungssanitäterin, das ist eine Stufe unter dem Notfallsanitäter, gemaßregelt. Gibt es keine Einsätze zu fahren, sind auf der Wache andere Arbeiten zu erledigen.
Dennoch piept ständig irgendwo ein Melder. Jedes Mal steigt meine Anspannung. Dass es unterschiedliche Alarmtöne gibt, bekomme ich langsam mit. Um 12.24 Uhr aber ist NEF 10-82-1 wieder gefordert. „Bewusstlose Person. 93 Jahre, in Basedow“, lautet die Mitteilung. Mit 130 Kilometern pro Stunde geht es über die B5. In Gülzow muss Steve Trebbin einmal stark in die Eisen gehen, als er einen Pkw überholen will, dieser aber gleichzeitig ein parkendes Fahrzeug passieren will. Die Sirene, die Trebbin mit dem linken Fuß steuert, war eigentlich laut genug.
Demente Frau hat zu wenig getrunken
Womit er jetzt rechne, will ich von von Holten wissen. „Bei 93 Jahren? Das ist die große Bandbreite: von ,hat zu wenig getrunken‘ bis zu ,ist leider gestorben‘ kann es alles sein“, sagt der Notfallmediziner. Die Fahrt endet an einer Seniorenwohnanlage, wo die Besatzung des Basedower RTW ist bereits vor Ort. Es handelt sich um 93 Jahre alte demente Frau, die keine Angaben zu ihrem Befinden machen kann. Es stellt sich heraus, dass sie zu wenig getrunken hatte. „Da war mein erster Verdacht ja gar nicht schlecht“, wirft von Holten später ein. Die Seniorin wird im RTW ins Geesthachter Krankenhaus gebracht.
Von Holten und Trebbin sind frei für den nächsten Notfall. Der ist gleichzeitig der letzte der Schicht und tritt erst um 15.12 Uhr ein. Erneut wird eine bewusstlose Seniorin (91) gemeldet, diesmal im Altenheim in Geesthacht-Edmundsthal. Ursache war ebenfalls eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr.
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Dennoch sollten ältere Personen nicht davor scheuen, den Notruf zu wählen. „Die 87-Jährige, die einen Infarkt zwei Tage verschleppt, weil sie erst am Montag zum Hausarzt gehen will, ist typisch. Junge Leute, die mit Kleinigkeiten nicht auf den Hausarzt warten wollen, aber heutzutage leider auch“, weiß Rouven von Holten aus Erfahrung. Aber so oder so: 60 Sekunden nach der Alarmmeldung wird er auch das nächste Mal wieder auf dem Beifahrersitz des NEF 10-82-1 sitzen.