Lüneburg. Uni-Projekt soll Fachkräfte aus Kita und Schule für die Früherkennung sensibilisieren. Was das neue Modell so besonders macht.
- Wenn Kinder im eigenen Zuhause Gewalt zwischen den Eltern erleben, leiden sie oft im Stillen
- Um ihre Eltern zu schützen, sprechen sie nicht über das Erlebte, obwohl das immens wichtig wäre
- Eine wichtige Frage lautet also: Wie kann man als Erzieher oder Lehrerin erkennen, dass diese Kinder Hilfe brauchen?
Gewalt gegen Kinder hat viele Gesichter. Während Misshandlungen, die sich direkt gegen Kinder wenden, und sexueller Missbrauch auch dank der Istanbul Konvention verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sind, bleibt eine spezielle Form der Gewalt noch weniger beachtet: Was passiert mit Kindern, die miterleben, wie sich die Eltern gegenseitig Gewalt antun? Die zum Beispiel beobachten, wie der Vater die Mutter schlägt? Wie wirkt sich häusliche Gewalt auf die kindlichen Zeugen aus?
Das Problem sei kein Randphänomen, betont Kathrin Richter, Polizeihauptkommissarin in Lüneburg und Beauftragte für Kriminalprävention. Regelmäßig besucht sie zweite Grundschulklassen. „Etwa vier bis fünf Kinder in jeder Klasse berichten von gewaltvollen Erfahrungen zu Hause. Das zieht sich durch alle sozialen Schichten“, sagt Richter. Oft dauere es lange, bis die Gefahr von Erwachsenen erkannt werde. So brauche ein Kind bis zu sieben Versuche, bis seine Hilferufe ernst genommen werden.
Kinder aus Gewaltfamilien: Wie erkennt man die unsichtbaren Narben der Opfer?
Damit betroffene Kinder in Zukunft schneller gehört werden, entwickeln Forschende in einem Projekt an der Leuphana Universität in Lüneburg Fortbildungen. So lernen Fachkräfte aus Kitas und Schulen, woran sie erkennen, dass ein Kind unter Familiengewalt leidet, und wie sie dem Kind am besten helfen können.
Häusliche Gewalt hinterlässt nicht unbedingt blaue Flecken, aber immer Spuren auf der Seele. „Kinder kriegen von Anfang an mit, dass sie nicht darüber sprechen dürfen, was zu Hause passiert“, sagt Kathrin Richter und nennt das Beispiel einer Mutter, deren Partner ihr einen Zahn ausgeschlagen hat. Zum Termin beim Zahnarzt muss sie ihr kleines Kind mitnehmen, das mit anhört, wie die Mutter von einem erfundenen Treppensturz erzählt. An solchen Geheimnissen haben die Mädchen und Jungen schwer zu tragen. Richter: „Für Kinder ist es ganz wichtig zu erfahren, dass sie über das Erlebte und Gesehene sprechen dürfen.“
Lehrkräfte und Erzieher lernen, mit Kindern über Gewalt zu sprechen
In den Fortbildungen erhalten die Erzieher und Lehrer zunächst Tipps, wie sie kindgerecht über Gewalt sprechen können – auch, ohne dass es einen konkreten Anhaltspunkt gibt. So entstehen Gelegenheiten für Kinder, von gewalttätigen Eltern zu erzählen. Mit dem „Lüneburger Gesprächsleitfaden“ können sich Fachkräfte auf Gespräche mit Opfern häuslicher Gewalt vorbereiten.
Gibt es bereits einen Verdacht oder berichtet ein Kind von erfahrener und beobachteter Gewalt, sollten die Erwachsenen vermeiden, in Panik oder Aktionismus zu verfallen. „Wer aufgeregt reagiert, hilft dem Kind nicht unbedingt“, sagt Richter. Wichtiger sei es, sich zunächst in Ruhe beraten zu lassen. Der Runde Tisch gegen Gewalt in der Familie hat auf seiner Internetseite eine Übersicht von Anlaufstellen in der Region Lüneburg zusammen gestellt, die Hilfe bei Gewalterfahrung bieten: www.gegen-gewalt-in-der-familie.de.
Land Niedersachsen fördert Projekt mit 170.000 Euro pro Jahr
Das Projekt „Kinder(leben) in Familien mit Partnerschaftsgewalt“ ist im April vor zwei Jahren gestartet, bisher wurde es finanziell von zwei Stiftungen getragen. Für das Folgeprojekt über weitere drei Jahre hat das Land Niedersachsen nun eine Förderung in Höhe von 170.000 pro Jahr zugesagt.
Künftig sollen noch mehr sogenannte Multiplikatoren angesprochen werden, um das Thema bekannter zu machen. „Wir gucken bereits stark auf Gewalt gegen Kinder“, sagt Anette Steege vom Niedersächsischen Sozialministerium. „Aber dieses Feld ist bislang wenig beleuchtet worden.“
Lüneburger Professorin trägt das Thema an künftige Pädagogen heran
Getragen wird das Projekt von dem Verein Institut für Schule, Jugendhilfe und Familie, in Kooperation mit der Leuphana Universität Lüneburg. Dort setzt sich Prof. Dr. Angelika Hentschel seit vielen Jahren dafür ein, dass sich schon künftige Pädagogen mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder auseinandersetzen. Das von ihr aufgebaute Expertinnennetzwerk bringt aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in die Fortbildungen für Praktiker aus Schulen, Kitas, Beratungsstellen und Frauenhäusern ein.
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Die Forschenden und Fachkräfte tragen somit dazu bei, dass das Internationale Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt von 2011 vor Ort umgesetzt wird. Deutschland hat die sogenannte Istanbul Konvention 2017 ratifiziert, jedoch Vorbehalte gegen einzelne Artikel geäußert. Nachdem diese zurückgezogen wurden, gilt das Abkommen seit 2023 hierzulande uneingeschränkt.
Polizistin warnt: „Die Opfer von heute sind die Täter von morgen“
Dass Kindern, die zu Hause Gewalt erleben, frühzeitig geholfen wird, hat auch langfristige Auswirkungen. Von einem „Drehbuch der Gewalt“ spricht Polizistin Kathrin Richter, wenn sie sagt: „Die Opfer von heute sind die Täter von morgen. Wenn der Vater zu Hause schlägt, wird der Sohn seine spätere Partnerin genauso behandeln. Und Mädchen suchen sich später einen Partner, der sie schlägt oder erniedrigt, weil es für sie vertrautes Verhalten ist.“
Mädchen und Jungen, die in Gewaltfamilien aufwachen, übernehmen laut der Expertin mit großer Wahrscheinlichkeit die Verhaltensweisen ihrer Eltern. Es sei denn, die Kinder werden rechtzeitig von einem Erwachsenen gehört und ernst genommen. Dann kann der Kreislauf durchbrochen werden.