Buchholz/Stade/Lüneburg. Damit der Täter auch später noch überführt werden kann: Netzwerk hilft bei häuslicher und sexueller Gewalt – auch ohne Anzeige.

Diese Kopfschmerzen! Alles tut weh. Er hat es wieder getan. Hat wie wild auf sie eingeprügelt. Ihr Körper fühlt sich an wie ein riesiger blauer Fleck. In der Notaufnahme kennt man sie schon. Es ist ihr peinlich. Sie sagt, sie sei gestolpert. Von den Unterleibsschmerzen erzählt sie erstmal nichts.

Sie wird untersucht. Eine Gynäkologin kommt. Sie sagt, dass sie helfen möchte. Die Ärztin erzählt von einem Netzwerk und dass sie der Schweigepflicht unterliegt. Und sie schlägt vor, die Verletzungen diesmal zu dokumentieren. „Keine Angst, das bedeutet nicht, dass die Polizei eingeschaltet wird und Sie eine Anzeige stellen müssen“, sagt die Frauenärztin. „Aber wenn wir die Spuren jetzt sichern, können Sie sich das in Ruhe überlegen. Wir unterstützen Sie.“

Vergewaltigt und verprügelt: Professionelle Beweissicherung für Betroffene

Vor solchen oder ähnlichen Fällen stehen nicht nur Notaufnahmen in der Großstadt regelmäßig, sondern auch die Kliniken in der Region berichten über zunehmende Fälle von Körperverletzungen, die auf häusliche oder sexuelle Gewalt hinweisen. Sowohl die Elbe-Kliniken in Stade und Buxtehude als auch die Krankenhäuser in Winsen und Buchholz und das Klinikum Lüneburg gehören deshalb dem Netzwerk ProBeweis an, das professionelle Beweissicherung für Betroffene anbietet. Das Netzwerk wurde 2012 vom Institut für Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover ins Leben gerufen.

Das ProBeweis-Team im Krankenhaus Buchholz (v.l.): Anna-Lena Meyer, Izabel Rothweiler, Dr. Linda Wanke, Gabriele Brinkmann und Dr. Marco Ludik.
Das ProBeweis-Team im Krankenhaus Buchholz (v.l.): Anna-Lena Meyer, Izabel Rothweiler, Dr. Linda Wanke, Gabriele Brinkmann und Dr. Marco Ludik. © Sabine Lepél | Sabine Lepél

In den Kliniken des Netzwerkes werden die Beweise unabhängig von einer Anzeige bei der Polizei dokumentieren. „Das sichert den Opfern die Möglichkeit, auch später noch gegen die Verursacher vorzugehen“, sagt Dr. Linda Wanke, langjährige Oberärztin der Inneren Abteilung im Krankenhaus Buchholz. Das gebe den Betroffenen Zeit, denn vielen falle es sehr schwer, nach erlebter Gewalt sofort zu entscheiden, ob sie eine Anzeige bei der Polizei erstatten wollen. „Für ein mögliches späteres Gerichtsverfahren ist es jedoch wichtig, zeitnah nach der Gewalterfahrung Befunde und Spuren fachkundig zu dokumentieren und zu sichern“, erklärt Wanke. „Wenn Beweismittel verloren gehen, ist es oft unmöglich, Straftaten nachzuverfolgen.“

Fast 27.000 Fälle von häuslicher Gewalt allein in Niedersachsen

Aus diesem Grund wird in den Krankenhäusern der Region diskret auf das Angebot aufmerksam gemacht, Spuren und Befunde unverbindlich und vertraulich zu sichern. „Die Erfahrung körperlicher oder sexueller Gewalt ist für die Betroffenen immer ein außergewöhnlich tragisches und traumatisches Erlebnis“, sagt Professor Dr. Peter Dall, Chefarzt der Frauenklinik am Klinikum Lüneburg, an der die ProBeweis-Untersuchungsstelle angesiedelt ist. Ansprechpartnerin für die Untersuchungsstelle ist die jeweils diensthabende Ärztin der Frauenklinik, die auch die Gespräche mit betroffenen Frauen führt und die Beweissicherung macht.

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Häusliche und sexuelle Gewalt – in den allermeisten Fälle gegen Frauen gerichtet – ist ein großes Problem in allen gesellschaftlichen Gruppen. Laut Bundeskriminalamt gab es im Jahr 2022 mehr als 240.000 Opfer von häuslicher Gewalt - ein Anstieg um 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Allein in Niedersachsen wurden in dem Jahr fast 27.000 Fälle von häuslicher Gewalt dokumentiert. Die Dunkelziffer ist laut Polizei deutlich höher. Nur selten kommt es überhaupt zur Anzeige.

In Stade wird ein Fall pro Monat für ProBeweis dokumentiert

 Dr. Thorsten Kokott, Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Elbe Klinikum, hat das Projekt in Stade initiiert.
 Dr. Thorsten Kokott, Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Elbe Klinikum, hat das Projekt in Stade initiiert. © Martin Elsen

„Dabei spielen vor allem Angst und Scham eine Rolle“, sagt Dr. Linda Wanke. „Nicht selten leben Täter und Opfer unter einem Dach. Viele Opfer fürchten die Konsequenzen einer Anzeige, den Verlust des gewohnten Umfelds oder den Bruch mit der eigenen Familie.“

Auch wiederholte Befragungen in einem Verfahren und die Konfrontation mit Polizei und Justiz würden häufig als überfordernd empfunden – besonders direkt nach erlebter Gewalt. „Die Opfer können dann nicht adhoc entscheiden, ob sie eine Anzeige bei der Polizei erstatten wollen“, bestätigt Dr. Thorsten Kokott, Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Elbe Klinikum Stade. Dort wird aktuell etwa ein Fall pro Monat für ProBeweis dokumentiert.

Vertrauenssache: Die Polizei muss nicht eingeschaltet werden

In allen ProBeweis-Partnerkliniken der Region sind speziell rechtsmedizinisch geschulte Ärztinnen und Ärzte für die Beratung zuständig und sorgen dafür, dass alle relevanten Befunde sachkundig und gerichtsverwertbar erfasst werden. Stimmt das Gewaltopfer zu, werden bei einer kostenlosen Untersuchung auf einem vorgegebenen Dokumentationsbogen von ProBeweis alle Anamnese-Daten und Untersuchungsergebnisse dokumentiert.

Gesichert werden zum Beispiel Abstriche, Blutabnahmen, Sperma-Spuren oder Spuren unter den Fingernägeln. Die Dokumentation wird durch Fotos von den Verletzungen ergänzt. Das gesicherte Beweismaterial kommt in eine spezielle Box, die die Kliniken an die Rechtsmedizin in Hannover schicken. Dort wird es für mindestens drei Jahre archiviert. Ob die Beweissicherung jemals juristisch verwertet wird, erfahren die Kliniken nicht.

Dieses Plakat des Netzwerks ProBeweis wendet sich an Betroffene. Sie erhalten Informationen und konkrete Hilfe.
Dieses Plakat des Netzwerks ProBeweis wendet sich an Betroffene. Sie erhalten Informationen und konkrete Hilfe. © Lepél/ProBeweis | ProBeweis

Bei der Ansprache der Gewaltopfer wird sehr vorsichtig vorgegangen

Auch in den Krankenhäusern im ländlich geprägten Hamburger Speckgürtel ist das medizinische Personal sehr viel hellhöriger geworden, wenn der Verdacht auf häusliche oder sexuelle Gewalt im Raum steht. „Sollte sich im Rahmen der Klinikvorstellung der Verdacht bezüglich eines Gewaltgeschehens ergeben, weisen wir mit entsprechender Gesprächssensibilität auf Möglichkeiten der Dokumentation hin“, sagt der Stader Chefarzt Kokott.

Dabei werde sehr vorsichtig vorgegangen, ergänzt Linda Wanke: „Nicht selten werden die Opfer vom Verursacher ins Krankenhaus begleitet.“ Wichtig dabei sei vor allem auch das Pflegepersonal: „Es ist oft viel dichter an den Patienten dran“, so Wanke.

Wie bedrohlich das eigene Umfeld für Menschen mit Gewalterfahrung sei kann, zeigt auch der Hinweis auf der Homepage von ProBeweis: „Wenn eine Person, die Sie bedroht, Zugang zu dem Rechner hat, mit dem Sie diese Website aufrufen, sollten Sie nach dem Verlassen der Seite Ihre digitalen Spuren verwischen“, heißt es dort mit einem Verweis auf die dazu notwendigen Schritte. Mit gutem Grund: Jede Stunde werden laut Bundeskriminalamt mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Der Weg ins Krankenhaus und zu ProBeweis kann ein erster Schritt aus dieser Spirale der Gewalt sein.