Landkreis Harburg. Der Landkreis Harburg ist mit einer Digitaloffensive in der Opferhilfe bundesweit Vorreiter

Erst hagelte es Faustschläge, danach griff der Mann zum Messer – und schließlich band er die Frau sogar noch an die Anhängerkupplung seines Autos und raste los. Nach 200 Metern löste sich das Seil, das Opfer überlebte schwer verletzt. Dieser Fall in Hameln hatte vor fünf Jahren bundesweit Entsetzen ausgelöst. Doch auch wenn der versuchte Femizid, der Tötungsversuch, besonders spektakulär und brutal war – häusliche Gewalt ist kein Einzelfall. Hilfe finden Betroffene im Landkreis Harburg beim Netzwerk gegen häusliche Gewalt – und diese Unterstützung ist künftig nur einen Klick entfernt.

„Um Frauen künftig noch besser zu erreichen, gehen wir neue Wege – und sind künftig auch digital erreichbar“, sagt Andrea Schrag, Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises Harburg. „Hier finden Hilfesuchende ab sofort unkompliziert, gebündelt und kompakt alle Informationen“, ergänzt Katrin Richter-Fuss (Jugendamt Landkreis Harburg). Zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am Freitag ging das Netzwerk online an den Start. Zum Auftakt der 16-Tage-Kampagne wurde die Homepage unter dem Motto „Gemeinsam gegen häusliche Gewalt im Landkreis Harburg“ (www.gghglkh.de) freigeschaltet. Das Netzwerk im Landkreis Harburg ist damit bundesweit Vorreiter und das erste Netzwerk, das digitale Angebote schafft. Gefördert wurde das vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung im Rahmen der UN-Frauenrechtskonvention CEDAW.

Website informiert über die verschiedenen Hilfemöglichkeiten im Landkreis Harburg

Die Website informiert über die verschiedenen Hilfemöglichkeiten für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte können sich vertraulich und kostenfrei an das Netzwerk wenden. Sie nennt Hilfen und Ansprechpersonen, verweist auf Beratungsstellen und andere Einrichtungen und erklärt Begriffe. Unkompliziert und von zu Hause oder unterwegs können sich Betroffene informieren und Kontakt aufnehmen. „Das nimmt Betroffenen die Hemmschwelle und zeigt auf, welche Möglichkeiten und Hilfen sie haben“, sagt Carsten Bünger (Polizei). „Das ist so übersichtlich, das nutzen wir künftig auch in der Beratung“, sagt Dörthe Heien (BISS). Die Website wird fortlaufend aktualisiert und erweitert. So hat das Netzwerk bereits Pläne für stärkere Barrierefreiheit. Dazu wird die Seite um Informationen in leichter Sprache und in Gebärdensprache erweitert.

„Mit der Website haben wir einen Meilenstein erreicht und stellen uns dem Leben in digitalen Zeiten“, sagt Evelyn König (Stiftung Operhilfe Niedersachsen). „Wir wollen sichtbarer werden und durch die Verknüpfung digitaler und analoger Kanäle eine einfache, niederschwellige Erreichbarkeit schaffen“, so Jörg Schwarz (Jugendamt). „Außerdem wollen wir als Netzwerk im Internet und in den sozialen Netzwerken präsenter sein und gerade junge Menschen noch besser erreichen.“ Hinzu kommt: Oftmals hat der gewalttätige Partner immer mehr Kontrolle über die Betroffene übernommen – der Kontakt zu einer Beratungsstelle ist da schwierig.

„Wir wollen das Thema aus der Tabuzone holen, die Gesellschaft sensibilisieren“

Das Netzwerk gegen häusliche Gewalt trägt so dem Leben in digitalen Zeiten Rechnung. Dazu hatte es im vergangenen Jahr bereits den Instagram-Account @gemeinsamgegenhaeuslichegewalt initiiert und ist auf Facebook (@gemeinsamgegenhäuslicheGewaltimLandkreisHarburg) präsent.

„Wir wollen das Thema aus der Tabuzone holen, die Gesellschaft sensibilisieren und auf Hilfsangebote aufmerksam machen. Vor allem aber wollen wir Frauen ermutigen, sich Hilfe zu holen“, sagt Andrea Schrag. Der Bedarf ist groß: Im vergangenen Jahr wurden 143.016 Fälle von Partnerschaftsgewalt zur Anzeige gebracht. Immer wieder kommt es sogar zum Femizid: Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine Partnerin zu töten. Jede vierte Frau in Deutschland wird Opfer körperlicher Gewalt durch ihren Partner, alle 13 Minuten erlebt eine Frau Gewalt durch ihren Partner.

2020 wurde laut Berechnungen nur etwa jede 215. Tat durch Opfer angezeigt

Zudem ist die Dunkelziffer grundsätzlich hoch, da viele Betroffene aus Angst oder Scham lieber schweigen. Das zeigt auch eine aktuelle Dunkelfeldstudie des Landes: Danach wurde 2020 nur etwa jede 215. Tat durch Opfer angezeigt. Das heimtückische an häuslicher Gewalt: Sie findet hinter verschlossenen Türen statt und ist für andere meist unsichtbar. Dabei hat Gewalt viele Formen, umfasst nicht nur Tritte und Schläge, auch Nötigungen, Beleidigungen oder Demütigungen gehören dazu.

Kommt es in Niedersachsen wegen häuslicher Gewalt zu Polizeieinsätzen, stellt diese den Kontakt zur Beratungsstelle BISS her. Im Landkreis Harburg hatte die BISS 2021 zu 316 Frauen Kontakt. Doch dort kann nur eine Erstberatung stattfinden. Für weitergehende umfassende Unterstützung und als Ansprechpartnerin gibt es seit November 2019 eine Beratungsstelle für Mädchen und Frauen, unabhängig vom Zeitpunkt und der Art der erlebten Gewalt. Die Einrichtung verzeichnete im vergangenen Jahr 123 Fälle.

Die Beratungsstelle BISS ist unter Telefon 04181/219 79 21 zu erreichen, das Frauenhaus im Landkreis Harburg unter Telefon 04181/217 151, das bundesweite Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen unter Telefon 08000/116 016, die Beratungsstelle für gewaltbetroffene Mädchen und Frauen unter Telefon 04171/ 600 88 50. Die Opferhilfe Lüneburg ist unter Telefon 04131/7271910, die Opferhilfe Stade unter Telefon 04141/403 04 31 zu erreichen und bietet durch qualifizierte Opferhelferinnen und -helfer psychosoziale Beratung, Begleitung und Unterstützung.

Die Ehrenamtlichen des Weißen Rings, die beispielsweise zu Behörden begleiten und als Lotsen im Hilfesystem fungieren, sind unter Telefon 0151/55 16 47 33 zu erreichen. Die Krankenhäuser Buchholz und Winsen sind Netzwerkpartner im Projekt ProBeweis der Medizinischen Hochschule in Hannover. Das Hilfsangebot richtet sich an Opfer von häuslicher und/oder sexueller Gewalt, die noch keine Anzeige erstatten wollen. In den Krankenhäusern besteht die Möglichkeit, unmittelbar nach der Gewalterfahrung Verletzungen dokumentieren und Spuren professionell sichern zu lassen.Die Betroffenen können ohne Termin oder Anruf in die Kliniken kommen.