Landkreis Lüneburg/Landkreis Harburg. Zahlen aus 2022 belegen dramatische Lage für Landkreis Lüneburg. Auch im Landkreis Harburg fehlen Kapazitäten.
Er steht vor der Tür, wie in den Nächten zuvor. Wieder schreien die drei Kinder vor Angst. Wieder ist die Mutter verzweifelt. Ihren gewalttätigen Partner hat die Polizei bereits der Wohnung verwiesen, doch das Verbot interessiert den Mann nicht. Sie will weg – aber wohin?
Das Problem: Prinzipiell bieten Frauenhäuser Schutz vor häuslicher Gewalt, es gibt sie in vielen Städten und Landkreisen. So auch in den Landkreisen Lüneburg und Harburg. Doch die Mitarbeiterinnen müssen Frauen in solchen und ähnlichen Notsituationen immer häufiger abweisen. Der Großteil der Einrichtungen in Deutschland ist an der Belastungsgrenze – so auch in der Region südlich der Elbe.
Frauenhäuser: Lage in Lüneburg besonders dramatisch
Das hat eine Auswertung zur Auslastung der Frauenhäuser im Jahr 2022 ergeben. Wie die Kooperation zwischen dem Recherchenetzwerk Correctiv.Lokal und dem Abendblatt zeigt, ist die Lage im Lüneburger Frauenhaus besonders schwierig, dessen zwölf Plätze im Vorjahr praktisch durchweg zu 100 Prozent belegt waren.
Wenig besser sieht es im Landkreis Harburg aus. Das Frauenhaus ist nicht Teil der Correctiv-Auswertung. Doch auf Abendblatt-Nachfrage zeigt sich, dass die Auslastung der acht Plätze in Buchholz 2022 nach eigener Berechnung des Trägers (Awo) bei 95,07 Prozent lag.
Lüneburg weist 177 Frauen ab, Buchholz 154
Und für beide Häuser gilt: Die Nachfrage übersteigt das Angebot massiv und zunehmend. In Lüneburg erhielt nur etwa eine von vier Frauen, die akut Hilfe benötigte und die Aufnahmekriterien erfüllte, auch einen Platz in der Einrichtung. 61 Frauen wurden im Jahr 2022 neu aufgenommen, 177 – fast dreimal so viele – mussten die Mitarbeiterinnen wegen Vollbelegung abweisen.
In Buchholz erhielten insgesamt 22 Frauen und ihre Kinder Zuflucht. Keinen Platz konnte die Awo 154 Schutzsuchenden anbieten. Demnach hätte nur jede siebte Frau einen Platz erhalten – allerdings wurden bei kurzfristigen Anfragen in Buchholz nicht differenziert überprüft, ob es noch andere Ausschlusskriterien als den Platzmangel gegeben hätte.
In Buchholz warten „eigentlich immer Frauen auf den nächsten freien Platz“
„Das Haus ist immer voll. Wenn wir zwischendurch mal ein Platz frei haben, ist der innerhalb kürzester Zeit wieder weg“, sagt Mira Lambertz, Vorstandsmitglied im Verein Frauen helfen Frauen, Träger des 1980 gegründeten Autonomen Frauenhaus in Lüneburg.
Ähnlich äußern sich die Mitarbeiterinnen der Einrichtung in Buchholz. Das Haus wird seit dort seit 2005 von der Arbeiterwohlfahrt betrieben. Ein Frauenhaus gibt es im Kreis Harburg seit 1989. „Es warten eigentlich immer Frauen auf den nächsten freien Platz“, sagt Jana Thomas. „Und wir haben viel mehr Anfragen als früher.“
Kreis Harburg: Sechsmal so viele Absagen im Jahr 2022
Der Blick in die Zahlen verdeutlich, wie drastisch der jüngste Anstieg im Landkreis Harburg ausfällt. Denn 2021 musste die Awo Harburg-Land lediglich 24 Absagen erteilen. 2022 blieb die Tür mehr als sechsmal so vielen Frauen (154) verschlossen.
In Lüneburg liegen die Belegungszahlen seit Jahren auf höherem Niveau, so mussten dort 2021 bereits 136 Frauen und 148 Kinder wegen Vollbelegung abgewiesen werden. 2022 war der Bedarf jedoch auch hier besonders groß.
Die aggressivere Grundstimmung wirke sich auch auf die Frauenhäuser aus
Die Corona-Pandemie habe dabei eine Rolle gespielt, sagt Mira Lambertz aus Lüneburg. „Es herrscht eine aggressivere Grundstimmung in der Gesellschaft, die sich auch auf unsere Arbeit im Frauenhaus auswirkt. Außerdem gehen wir davon aus, dass die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt deutlich gestiegen ist.“
Elisabeth Meinhold-Engbers, Bereichsleiterin und stellvertretende Geschäftsführerin des Awo Kreisverbands Harburg-Land, weist darauf hin, dass Betroffene auch stärker für das Thema häusliche Gewalt sensibilisiert seien. „Frauen suchen schneller einen Ausweg als früher“, sagt die Diplompädagogin.
Nicht nur der Platzmangel sorgt für Absagen
Eine gestiegene Nachfrage trifft hier allerdings auf Kapazitäten, die im Fall des Landkreises Harburg seit den 80er-Jahren nicht angepasst wurden. Abgesehen vom Platzmangel verhindern in beiden Frauenhäusern auch andere Gründe eine Aufnahme.
Beispiel Lüneburg: Weitere 36 Frauen erhielten im vergangenen Jahr zum Beispiel wegen Obdachlosigkeit, akuter Psychose, körperlicher Behinderung oder Söhnen über 13 Jahre keinen Platz. Auch Transfrauen müssen abgewiesen werden. Denn das Gebäude ist weder barrierefrei noch bietet es ausreichend Privatsphäre.
Zielzahlen für Frauenhausplätze liegen deutlicher höher
Von den Empfehlungen der sogenannten Instanbul-Konvention sind beide Standorte zurzeit weit entfernt. Gemessen an der Einwohnerzahl sollten demnach im Landkreis Harburg um die 25 Frauenhausplätze zur Verfügung sehen, im Landkreis Lüneburg um die 18 Plätze (mehr Informationen im Infokasten). Obwohl die EU-Konvention seit 2018 in Deutschland rechtlich verbindlich ist, tat sich lange nichts. Mittlerweile haben Verwaltungen und Politik in beiden Landkreisen das Problem in den Blick genommen.
So hat der Harburger Kreistag im Dezember 2022 beschlossen, die Anzahl der Frauenhausplätze zu erhöhen. Vermutlich deutlich, wie der Verweis auf die Empfehlung der Instanbul-Konvention im Beschluss nahelegt. Die Verwaltung stemmt 60 Prozent der Mittel, 40 Prozent kommen vom Land Niedersachsen.
Schafft der Landkreis Harburg 25 statt 8 Plätze?
Wie viele Plätze der Landkreis künftig tatsächlich mitfinanziert, bleibt jedoch unklar. Derzeit ist eine Arbeitsgruppe der Verwaltung gemeinsam mit dem Netzwerk häusliche Gewalt damit beschäftigt, den örtlichen Bedarf zu ermitteln und konkrete Maßnahmen vorzuschlagen. Auf Abendblatt-Nachfrage konnte der Kreis keinen Zwischenstand geben und nicht abschätzen, ob ein Konzept noch im Jahr 2023 vorliegen wird.
„25 Plätze wäre unserer Wunschzahl“, sagt Elisabeth Meinhold-Engbers von der Awo. Auch eine Verdopplung der Kapazitäten wäre ein riesiger Schritt. Der Ausbau sei so oder so mit einem „Kraftakt“ verbunden. Denn eine größere Einrichtung müsse auch personell gut aufgestellt sein. „Unser Team funktioniert sehr gut – und das soll auch so bleiben“, so Meinhold-Engbers. Derzeit teilen sich vier Kolleginnen drei Stellen.
Auch bauliche Veränderungen seien notwendig. Mitarbeiterin Jana Thomas hält es für „ausgesprochen wichtig“, das Angebot möglichst im Kreisgebiet zu verteilen, statt die vorhandene Gemeinschaftseinrichtung in Buchholz zu erweitern oder durch eine größere zu ersetzen. Im Landkreis fehle zudem eine Unterkunft, in der die Polizei Frauen und ihre Kinder im akuten Notfall auch in der Nacht unterbringen kann.
Lüneburg peilt Neubau und vier zusätzliche Plätze an
Lüneburg geht einen anderen Weg. Dort gibt es bereits seit einigen Jahren konkrete Pläne für einen zentralen Neubau. Das neue Frauenschutzzentrum für Stadt und Landkreis Lüneburg soll Platz für 16 Familien in zehn Zimmern und sechs Wohnungen bieten, über einen Kinderbereich verfügen und zudem die Beratungsstellen FiF und Biff beherbergen.
Ziel ist es, eine einfach zu erreichende Anlaufstelle für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder zu schaffen. Die Kosten für einen solchen Neubau, der für den Schutz der Bewohnerinnen zudem besonders abgesichert werden soll, werden auf etwa sechs Millionen Euro geschätzt.
Stadt Lüneburg bezuschusst das Bauvorhaben mit bis zu 1,5 Millionen Euro
„Wir sind seit 2020 in regem Austausch mit der Stadt“, sagt Mira Lambertz. Sowohl die Stadt Lüneburg als auch der Landkreis Lüneburg, die das Frauenhaus durch Zuschüsse mitfinanzieren, haben ihre Bereitschaft erklärt, das Erweiterungsprojekt auch finanziell zu unterstützen. Nach einer entsprechenden Absichtserklärung des Kreistags im Oktober 2021 hatte die Landkreisverwaltung für 2022 bereits Mittel für eine Betriebskostenerhöhung und für einen Projektkostenzuschuss berücksichtigt.
Der Rat der Stadt hat im Dezember beschlossen, das Bauvorhaben mit bis zu 1,5 Millionen Euro zu bezuschussen – zusätzlich zu den Mitteln, die für den Ankauf eines Grundstückes aufgewendet werden. Dafür hatte die Stadt zuletzt drei mögliche Standorte ins Auge gefasst, jetzt ist eine Lösung zum Greifen nah. In der nicht öffentlichen Sitzung des Rates gab es für die Verwaltung grünes Licht für den Erwerb eines geeigneten Grundstücks. „Aktuell werden die letzten Vertragsdetails zum Erwerb geklärt“, sagt eine Stadtsprecherin.
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Frauenhäuser: Bewohnerinnen bleiben länger als nötig
Um den Neubau zu finanzieren, ist eine weitere Zusage wichtig: ein positiver Bescheid über Fördermittel aus dem Bundesprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“. Derzeit wartet der Verein auf die endgültige Zulassung, den Antrag über zwei Millionen Euro zu stellen. Lambertz ist zuversichtlich: „Wir hoffen, dass es 2025 oder 2026 losgeht.“
Ein Projekt der Stadt Lüneburg soll dem Frauenhaus schon früher Entlastung bringen. Denn häufig bleiben Bewohnerinnen länger als notwendig in der Einrichtung, weil sie keine eigene Wohnung finden. Mit „Second Stage“ soll ein Raum geschaffen werden, in dem diese Frauen übergangsweise wohnen können. Das Projekt startet Anfang April. Die Mitarbeiterinnen werden Frauen vorschlagen, die in das Haus Second Stage einziehen und durch eine Sozialarbeiterin der Stadt begleitet werden sollen.
Auch in Harburg ist der Wohnungsmarkt angespannt, das wirke sich merklich auf die Verweildauer im Frauenhaus aus, wie Jana Thomas sagt: „Etwa die Hälfte der Frauen verbleibt im Frauenhaus derzeit länger als sechs Monate.“
„Sind Sie selbst oder eine Ihnen vertraute Person von häuslicher Gewalt betroffen? Hier können Sie anonym Kontakt aufnehmen: Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016/ Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530“
Info: Die Istanbul-Konvention
Die Istanbul-Konvention des Europarats ist das internationale Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Seit Februar 2018 ist die Konvention in deutsches Recht überführt. Sie verpflichtet Bund, Länder und Kommunen gemeinsam definierte Ziele umzusetzen. In Bezug auf den Gewaltschutz für Frauen legt die Istanbul-Konvention (Art. 23) fest, dass sich alle Unterzeichnerstaaten verpflichten, Gewaltopfer zu schützen, indem sie für ausreichende und leicht zugängliche Schutzplätze sorgen. Diese sollen gemeinsamen Standards entsprechen und auf individuelle Schutzbedürfnisse eingehen.
Konkrete Zahlen sind den Artikeln der Konvention nicht zu entnehmen. Eine Empfehlung von einem Platz pro 10.000 Einwohner ist im Erörterungstext des Europarats zu finden. Die Anzahl der Schutzunterkünfte solle sich aber letztlich nach dem tatsächlichen Bedarf richten.
Correctiv.Lokal
Diese Recherche ist Teil einer Kooperation von Hamburger Abendblatt mit Correctiv.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt. Correctiv.Lokal ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv, das sich durch Spenden finanziert. Mehr unter correctiv.org