Hittfeld/Seevetal. Mit gebrochenem Schädel am Straßenrand gefunden: Mysteriöser Fall sorgte für Aufsehen. Wie es Jörg Hartmann heute geht.
- CDU-Politiker Jörg Hartmann wird vor einem Jahr schwerst verletzt am Straßenrand gefunden
- Sein Schädel ist gebrochen, im Krankenhaus kämpfen die Ärzte um sein Leben
- War es ein Angriff? Ein Unfall? Was in jener Nacht geschehen ist, gibt viele Rätsel auf
Die Nacht, in der Jörg Hartmann, damals 39, beinahe zu Tode kam, war kühl. Die Wolken hingen tief. Zu Fuß war er auf am Rande einer Landstraße unterwegs, als Irgendjemand oder irgendetwas seine Schädeldecke zertrümmerte. Auch heute, ein Jahr später, weiß niemand, wer es war oder was geschehen ist. Über einen Mann, der aus einem Einschlag in sein Leben immense Kraft gezogen hat.
Von Waldesruh, Hittfelds Nobelvorort bis zu Jörg Hartmanns Reihenhaus – gelegen in einer ruhigen Wohnstraße der Ortschaft in Seevetal – sind es knappe 2200 Meter. Jörg Hartmann beschließt, die Distanz nach einem Essen bei Freunden zu Fuß zurückzulegen. Das Wetter lässt es zu: knapp 2 Grad zeigt das Thermometer in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 2023, es ist bewölkt, regnet aber nicht mehr. Es hatte italienisches Essen gegeben und nette Gespräche, als sich Jörg Hartmann gegen 23 Uhr aufmacht, nach Hause aufzubrechen. Er ist allein an diesem Abend. Seine Lebensgefährtin ist in Frankfurt auf einer Messe.
Die Hittfelder Mühle ist von hier oben zu sehen, eine bekannte Diskothek
Er wirft seine Daunenjacke über, schnürt die Schuhe, geht den Hügel hoch zu einem Kreisel, die den Verkehr zwischen Klecken, Hittfeld und dem Hittfelder Vorort separiert. Sein Blick fällt auf die nahe A1, auf der auch jetzt noch reger Verkehr herrscht. Auf der Maschener Straße, die in diesem Abschnitt unbeleuchtet ist, gelangt er – links die Fahrbahn, rechts Gebüsch und Felder – zu einem weiteren Kreisel, den er auf der rechten Seite passiert.
Die Hittfelder Mühle ist von hier oben zu sehen, eine über die Grenzen Seevetals hinaus bekannte Diskothek. Kurz hinter der Abzweigung, die den schönen Straßennamen „In der Guten Zeit“ trägt, überquert er die Straße, um an einem Getränkehandel vorbei in die Eichendorffstraße zu gelangen, in der er wohnt.
Was also geschieht auf diesen zwei Kilometern? Schlägt ihn jemand hinterrücks nieder?
Nur: Erinnern wird er sich später an den Weg nicht mehr. Er weiß nur noch, dass er sich mit einem Dank für den netten Abend bei den Freunden verabschiedet hat. Ab dem ersten Kreisel ist alles weg. Was also geschieht auf diesen zwei Kilometern? Schlägt ihn jemand hinterrücks nieder? Die Wertsachen hat er später noch bei sich. Fällt etwas von oben herab? Was sollte das sein? Wirft jemand einen Gegenstand aus einem fahrenden Auto auf den abendlichen Spaziergänger? Eine leere Flasche? Einen Stein?
An der Einmündung zur Eichendorffstraße bricht er zusammen. Zum ersten Mal, zum wiederholten Mal? Gegen 1.55 Uhr wird er von einem Autofahrer am Straßenrand liegend gefunden. 200 Meter von seinem Zuhause entfernt in Höhe einer großen „30“, die hier auf den Asphalt gemalt ist. Andere Zeugen hatten Hartmann zuvor auffällig taumelnd an der Straße gesehen. Der Autofahrer ruft die Retter, die ihn routinegemäß ins Krankenhaus Buchholz bringen.
Er ist nicht ansprechbar. Sein Portemonnaie mit allen Papieren wird später auf der Straße entdeckt werden. In Buchholz sieht der behandelnde Arzt, dass die Schädeldecke des Patienten auf der linken Seite eingedrückt ist. Hartmann wird eiligst nach Altona verlegt. Wo sein Körper und die Ärzte in den kommenden vier Wochen um sein Leben kämpfen werden. Denn viel Blut war ins Gehirn geflossen.
Versuchter Totschlag? Die Polizei ermittelt mit dem Verdacht auf ein Gewaltverbrechen
Weil dem Mediziner die Verletzungen merkwürdig vorkommen, schaltet er die Polizei ein. Die ermittelt in der Folge mit dem Verdacht auf ein Gewaltverbrechen. Denn klar ist: Bei einem einfachen Sturz können sie nicht entstanden sein. Die Schädeldecke ist oberhalb der Hutkrempe zerstört. Als Ursache kommen Einschläge mit stumpfen Gegenständen infrage. Irgendetwas muss also von oben auf den Kopf des in Hittfeld bekannten Ortspolitikers eingewirkt haben.
Ein Zeugenaufruf wird veröffentlicht. Nur wenige mögliche Zeugen werden sich melden. Zur Aufklärung des Geschehens werden sie nicht beitragen. Vier Wochen nach dem Geschehen wird Jörg Hartmann aus dem Koma geholt. Überall sind Schläuche und Kabel. Er kann weder sprechen noch sich bewegen. Er weiß nicht, was geschehen ist, wo er ist und was ihn hierher gebracht hat. Zum Glück ist seine Lebensgefährtin da. Sie hält seine Hand.
Ein Jahr und etliche Operationen später sitzt Jörg Hartmann im Wohnzimmer des Hauses, das er mit seiner Lebensgefährtin bewohnt. Aus den äußeren Wunden sind Narben geworden, über die wieder Haare gewachsen sind. Arme und Oberkörper sind muskulös wie vor den Monaten in den Kliniken. Der Hobby-Altherren-Fußballer und Schütze Jörg Hartmann, von Beruf Deutschland-Bereichsleiter für Telekomanlagen – Funktürme/Antennen, um genau zu sein trainiert im Keller. Aber wie sieht es in ihm aus, nachdem ihn ein solch mysteriöser Vorfall im wahrsten Wortsinn aus der Lebensbahn geworfen hat?
„Es nützt doch nichts, permanent zurückzuschauen!“
„Was passiert ist, werde ich wohl nie erfahren“, sagt er. Und ich lerne langsam, aber sicher, damit meinen Frieden zu machen. Es nützt doch nichts, permanent zurückzuschauen und alles immer wieder zu durchdenken.“ Natürlich hat er wohl jede Theorie mehrfach durchgespielt, ist den Weg abgeschritten, im Hellen wie im Dunklen, hat Spuren gesucht, Steine umgedreht, Möglichkeiten durchdacht, Mutmaßungen wachsen lassen und wieder verworfen.
In einem Medium war von einem „feigen Mordanschlag auf einen CDU-Politiker“ und einer „Bluttat nach dem Abendessen“ die Rede gewesen. Natürlich hat Jörg Hartmann all das mit seiner Lebensgefährtin und seiner Familie durchgesprochen. Immer und immer wieder. Am Ende aber bleibt ein großes Fragezeichen.
Die Monate der Genesung waren hart. In einer ersten Operation waren zuvor entnommenen und eingefrorenen Teile seiner Schädeldecke wieder eingesetzt worden. Sein Körper stieß sie ab und reagierte mit heftigen, Epilepsie-ähnlichen Reaktionen. Möglicherweise hervorgerufen durch zu hohen Schädeldruck? In einer von drei weiteren Operationen wurden die zuvor eingesetzten Schädelteile wieder entnommen und gegen Knochenzement ersetzt. Diesmal ging alles gut. Eine Drainage sorgte dafür, dass der Druck im Kopf regulierbar blieb.
„Ziemlich zum Ende der Reha habe ich ein Vogelhäuschen gebaut. Was für ein Erlebnis!“
Seine Reha verbrachte Hartmann in Jesteburg, nahe seinem Zuhause. Hier lernte er wieder sprechen und – Schritt für Schritt – zu gehen. Die Buchholzer Polizei hielt ihn über die Ermittlungen auf dem Laufenden, er bekam Besuch und Zuspruch. Links und rechts des großen Fragezeichens brachen sich positive Erfahrungen und Erlebnisse Bahn. Der frühere Handwerker erlernte wieder, seine Hände sinnvoll einzusetzen. „Ziemlich zum Ende der Reha habe ich ein Vogelhäuschen gebaut. Es war ein unglaubliches Erfolgserlebnis“, sagt Jörg Hartmann. „Ohnehin hätte ich vorher nie gedacht, dass es so emotional sein kann, einfach etwas in der Hand zu halten oder ein Bein vor das andere zu setzen. Um das wertschätzen zu können, muss man wohl erfahren haben, wie es ist, wenn das alles nicht mehr da ist.“
Unbändige Freude, so erinnert Hartmann, habe er empfunden, als er spürte, wie die Kraft langsam wieder in die Gliedmaßen zurückkehrte. Auf dem Kopf trug er da immer noch einen voluminösen Helm. „Wenn ich da auf den Kopf gefallen wäre, hätte es vorbei sein können“, sagt der heute 40-Jährige. Und dennoch habe er immer mehr gewollt. Nach der ersten Treppenstufe am liebsten gleich die ganze Treppe, nach den ersten deutlich gesprochenen Worten am liebsten direkt in den Hittfelder Bauausschuss, dem er bis zum Einschlag vorsaß und nun wieder vorsitzt. Seine Gitarre hat er sich in die Reha bringen lassen und dort dann genussvoll erste noch schräge Töne produziert. Genervt habe nur das schlechte Netz. Er hatte so vielen Menschen danken wollen, die gute Wünsche geschickt hatten.
„Nach vier Wochen habe ich gefragt, ob ich wieder voll arbeiten darf“
Nach der Reha startete der Hittfelder die Wiedereingliederung bei seinem Arbeitgeber. Zunächst natürlich – wie in Wiedereingliederungen üblich – mit deutlich reduzierter Stundenzahl. „Nach vier Wochen habe ich gefragt, ob ich wieder voll arbeiten darf“, erinnert sich Jörg Hartmann. Inzwischen, so sagt er, fühle er sich körperlich zu 90 bis 95 Prozent wieder hergestellt.
Und der Kopf, der ja äußerlich ebenfalls wieder aussieht wie zuvor? Drinnen hat sich viel verändert. Etwas ganz Praktisches, wohl für jedermann nachvollziehbar: „Mein Sicherheitsgefühl hat nachhaltig gelitten“, sagt Jörg Hartmann. Daheim hat er Kameras installieren lassen, abendliche Spaziergänge, die er früher genossen hat, unternimmt er mit einem mulmigen Gefühl. Wenn er sie überhaupt unternimmt. Aber auch davon, dass er viel gewonnen habe, spricht Jörg Hartmann. „Ich weiß die Nähe meiner Verlobten jetzt noch mehr zu schätzen, möchte noch mehr als zuvor auf uns aufpassen.“ Momente auszukosten, das einfache Leben einfach und bewusst zu leben, dass sei vorher manchmal vielleicht zu kurz gekommen.
Vieles war auch vorher schön. Nachher ist es das Ein und Alles.
Das ist etwas, das viele Menschen erzählen, deren Leben in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ zu teilen ist. „Manchmal wundere ich mich jetzt, dass erst etwas passieren muss, damit man merkt, was man hat“, sagt Jörg Hartmann. Die Menschen, die Familie, das Umfeld. Das alles war auch vorher schön. Nachher ist es das Ein und Alles. „Dafür lohnt es sich, mit aller Kraft zu kämpfen“, sagt Hartmann. „Das möchte ich jedem sagen, der zweifelt. Ich würde diese Erfahrung gern weitergeben. Vielleicht findet sich eine Möglichkeit!“ Denn, auch das weiß der 40-Jährige: „Nicht jeder erfährt die Unterstützung, die ich auf meinem Weg zurück erfahren habe.“
Hartmann hat sich in der vergangenen Woche noch einmal in eine Klinik begeben. Auch, um auszuschließen, dass der Anfall, den er drei Tage nach der ersten Operation erlitten hatte, den Beginn einer Epilepsie markierte. Die Ergebnisse der Mediziner im Epilepsiezentrum der evangelischen Krankenhauses Alsterdorf waren erleichternd. Nichts deutet darauf hin, so befanden die Ärzte, dass Hartmann weiter mit Anfällen zu rechnen habe. Die Medikamente, die er noch nimmt, kann er zum 1. März ausschleichend absetzen. Am Freitag vergangener Woche hat er seine Sachen aus der Asservatenkammer der Polizei in Buchholz geholt. Darunter sein altes Portemonnaie mit all den gesperrten Karten.
- „Zum 100-Jährigen“: So geht es weiter in Hittfelder Gasthaus
- Der Weg für die „Neue Mitte Hittfeld“ ist frei
- Wie sich die Burg Seevetal nach 40 Jahren neu erfindet
Ebenfalls in der vergangenen Woche erhielt Hartmann einen Anruf aus der Frankfurter Zentrale seiner Bank: Jemand habe mit seiner Kreditkarte vergeblich versucht, Bitcoin im Wert von 2500 Euro zu erwerben. Vermutlich nur ein merkwürdiger Zufall.
Oder nicht? Was den Betroffenen bleibt sind zwei Fragen. Die eine: Was ist in der Nacht vom 4. Auf den 5. Februar 2023 zwischen Waldesruh und der Eichendorfstraße in Hittfeld geschehen? Und die andere: Was ist wichtig im Leben? Zumindest auf diese Frage haben Jörg Hartmann und seine Lebensgefährtin seit einem Jahr eine sehr klare Antwort.