Sittensen/Hamburg. Frühpensionär aus Sittensen verwirklicht seinen Lebenstraum. Über den langen Weg des 60-Jährigen und neue Ziele auf der Bühne.
Ein Mann Ende 50 geht in Frühpension. Und setzt fortan alles daran, seinen Lebenstraum zu verwirklichen: Er beginnt eine Schauspielausbildung und begeistert fortan auf den Brettern, die für ihn die Welt bedeuten… Das ist bestenfalls die Handlung einer Vorabendserie im TV, doch im wahren Leben so unwahrscheinlich wie ein Hauptgewinn im Lotto, sollte man meinen. Der ehemalige Chemie-Ingenieur Ralf Somann aus Sittensen ist diesen Weg tatsächlich gegangen.
Nun steht der 60-Jährige wenige Tage vor seiner Bühnenreifeprüfung, dem Schauspielexamen, das die Eintrittskarte zu Film, Fernsehen und Karriere ist. Welche Hindernisse es dabei zu überwinden gab, wie sein neuer Beruf ihn verändert hat und warum er glücklich ist über seine veränderte Lebensperspektive, das verrät der wunderbar wandelbare Schauspieler dem Hamburger Abendblatt.
Der Chemie-Ingenieur wuchs in der Industriestadt Schwedt an der Oder auf
In Schwedt an der Oder, der Industriestadt mit Erdöl-Raffinerie und Chemie-Industrie direkt an der polnischen Grenze, wuchs Ralf Somann auf. Schon als kleiner Junge beschäftigte er sich am liebsten mit seinem Marionettentheater, gewann später sogar Preise für sein Spiel. Doch während seiner Berufsausbildung als Chemikant, erst recht, als er den Eltern half, ein Haus zu bauen, geriet seine Liebe zum Theater in Vergessenheit.
Bis Tina kam. Seine heutige Frau, die nichts lieber tat, als mit ihm ins Stadttheater Schwedt zu gehen. Und auf einmal war sie wieder da, Somanns Sehnsucht, einmal selbst auf der Bühne zu stehen.
Im Jahr 1993 zog Familie Somann nach Sittensen. Die beiden Töchter wurden bald Mitglieder der Theater-Compagnie der Ballettschule Traumtanz in Tostedt. Auch Somann senior wurde gecastet, wirkte bei sechs Traumtanz-Produktionen mit und später bei vier Inszenierungen der Musikschule Sittensen. „Jedes Mal, wenn der Vorhang sich senkte, war ich tieftraurig, dass es vorbei war“, erinnert er sich.
Nur eine einzige Schauspielschule gab dem Spätberufenen eine Chance
Als dem Chemie-Ingenieur mit 57 Jahren der Vorruhestand angeboten wurde, zögerte er nicht lange. Er entschied sich, seinen Jugendtraum doch noch wahr zu machen und suchte sich eine Schauspielschule. Doch nur eine einzige der vielen Schulen, bei denen er sich bewarb, das Institut für Schauspiel, Drama und Film (ISDF) im Alten Heizkraftwerk in Altona, war bereit, dem Spätberufenen eine Chance zu geben.
„Ich bin der Ralf. Und ich komm jetzt öfter“, stellte er sich dem jungen, zehnköpfigen Team vor. Und wurde bald akzeptiert: „Wir sind wie eine Familie, in der es keinen Neid und keine Missgunst gibt“, sagt er. Schönster Beweis für die positive Gruppendynamik: Als die Schule kurzfristig von der Marzipanfabrik in das Heizkraftwerk umziehen musste, packten alle mit an.
Ralf Somann: „Ich bin der vermutlich älteste Schauspielschüler Deutschlands“
Der ehemalige leitende Angestellte, der von sich sagt: „Ich bin der vermutlich älteste Schauspielschüler Deutschlands“, verbringt viele Stunden mit dem Rollenstudium. Sein Ausbildungsplan umfasst mehr als 20 Stunden pro Woche: Somann bekommt Unterricht in Bewegungslehre, wo kleine akrobatische Kunststücke geprobt werden, im Fechten mit dem Degen, im Tanzen. In der Bühnen- und Filmtheorie, der Geschichte des Theaters und in Phonetik.
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In Improvisation – was tun, wenn es auf der Bühne nicht so läuft, wie geplant? – und in Regie. Sowohl für die Bühne als auch für den Film. Außerdem erlernt er Grundlagen der Bühnentechnik, die er beherrschen möchte, um auch allein tingeln zu können. Bei alledem genießt er das Zusammensein mit jungen Leuten, ihren Optimismus, ihre Sprache mit Begriffen wie „spooky“ (unheimlich, gruselig) und „weird“ (seltsam, unangenehm).
Schon im ersten Ausbildungsjahr hat sich Ralf Somann auf der Bühne bewährt: Zum Konzept der ISDF gehört es, Theorie und Praxis miteinander zu verzahnen und jedes Jahr eine eigene Theaterproduktion herauszubringen. MacBeth, seine Erstlingsrolle, spielte dem großgewachsenen und kräftigen Mann aus Sittensen schon körperlich in die Karten. Mittelalter, Wikinger, Kreuzritter – das liegt ihm. Auch Bösewichte kann er gut, in einem Stück von Ödön von Horvárth spielt er einen Zuhälter.
Mittelalter, Wikinger, Kreuzritter, Bösewichte – diese Charaktere liegen ihm
Als Geert von Instetten – diesem gelackten, prinzipientreuen und gefühlskalten Baron in Fontanes Effi Briest – beweist er seine Wandlungsfähigkeit. Und auch im Bereich der russischen Klassiker wie dem Monolog „Über die Schädlichkeit des Tabaks“ von Tschechow fühlt er sich wohl: „Das ist mir wie auf den Leib geschrieben.“
Somann geht sorgsam mit sich und seinem Talent um. „Mein Körper ist mein Kapital“, ist sein Wahlspruch. Gymnastik gehört inzwischen zu seinen Morgenritualen und hat ihm jugendliche Beweglichkeit geschenkt. Doch bei aller Vorbereitung bleiben die Nervosität und das Lampenfieber vor jedem Auftritt: „Wenn man die Bühne betritt und die Scheinwerfer angehen, dann sieht man erstmal gar nichts mehr und das Herz beginnt zu pochen wie verrückt.“ Ein Adrenalinschub, den er liebt und der seiner Meinung nach Voraussetzung ist, um das Beste aus sich herauszuholen.
Um die gewünschte Emotion hervorzurufen, arbeitet er mit Erinnerungen
„Wenn man eine Rolle spielt, lässt man seine eigene Person außen vor, wie eine leere Hülle“, beschreibt er seine Kunst. Aber wie schafft es der künftige Profi auf der Bühne, immer dann, wenn es die Rolle verlangt, aggressiv loszupoltern, dann wieder schmeichelnd zu werben, hämisch zu lachen oder verzweifelt loszuheulen? Was ist der Trick dabei? „Schauspiel ist Emotion auf Abruf“, sagt der Theaterfan. Um diese Emotion hervorzurufen, arbeitet er mit Erinnerungen an komische, traurige, ärgerliche Situationen, die ihm im Gedächtnis geblieben sind. Auch hier profitiert der Alt-Eleve von seiner reichen Lebenserfahrung, die er in vollem Umfang auszuschöpfen vermag.
Vorbilder sind Peter Kurth, Bruno Ganz, Jens Harzer und Robert Hunger-Bühler
„Meine Achtung vor dem Schauspielberuf ist immens gestiegen“, sagt Somann. Zu seinen Vorbildern hat er Peter Kurth und Bruno Ganz, Jens Harzer und Robert Hunger-Bühler erklärt. Gestiegen ist auch sein Gespür für handwerkliche Schludrigkeit. „Ich kann kein Fernsehen mehr gucken, ohne Fehler zu sehen“, sagt er.
Zum Beispiel Schauspieler, die Texte lediglich aufsagen anstatt sie zu spielen. Schauspieler, die auf dem Set auf- und abgehen, ohne dass klar wird, in welchem Bezug diese Bewegungen zur Handlung stehen. „Früher hätte mich das nicht gestört“, sagt er.
Neues Ziel: ein Engagement am renommierten Ernst-Deutsch-Theater
Nach dem Examen wird sich Somann bei Agenturen bewerben. „Jetzt muss es losgehen“, findet der kräftige Mann, der „bis mindestens 80“ spielen will. Was ihm Mut macht: „Es ist gerade eine goldene Zeit für Schauspieler, weil so viele neue Agenturen gegründet werden, so viele Medienanstalten wie Netflix eigene Filme drehen und es ja außerdem noch die Werbung gibt.“
Er will diese Aufbruchzeit unbedingt nutzen. Jetzt, wo sich sein Lebenstraum erfüllt, hat Ralf Somann schon ein neues Ziel: Jetzt träumt er von einem Engagement am renommierten Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg.