Hamburg. Linn Reusse ist seit dieser Saison im Ensemble des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Jetzt hat sie ihre erste Premiere auf der großen Bühne.
Als Fritzi Haberlandt im vergangenen Sommer beim Hamburger Theaterfestival mit einer gefeierten Jelinek-Inszenierung in der Hansestadt gastierte, kam sie aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Mit ihr auf der Bühne standen zwei Kolleginnen – die eine, Susanne Wolff, war wie Haberlandt selbst einst lange Jahre am Thalia Theater engagiert und dem Hamburger Publikum wohlvertraut. Die andere, Linn Reusse, sollte wenig später von der Spree an die Elbe wechseln. Vom Deutschen Theater, wo sie seit Ende ihrer Schauspielausbildung engagiert war, ans Deutsche Schauspielhaus. Von Ulrich Khuon zu Karin Beier. Eine „ganz tolle Spielerin“, begeisterte sich Fritzi Haberlandt, „klug, lustig, sehr begabt“, außerdem „sehr vielfältig, sehr intelligent“.
Inzwischen ist Linn Reusse im Ensemble des Deutschen Schauspielhauses angekommen. Vom Wochenende an steht sie erstmals auf der großen Bühne in einer Premiere: „Orlando“ ist eine Dramatisierung des gleichnamigen Virginia-Woolf-Romans in der Regie des vielfach ausgezeichneten Jossi Wieler, der damit nach einem Vierteljahrhundert Abwesenheit erstmals wieder am Deutschen Schauspielhaus inszeniert.
Linn Reusse: Großeltern, Vater, Onkel, Tante, Cousin und Cousine – alle waren oder sind Schauspieler
Zwischen Reusse (31) und Wieler (72) ist es die dritte gemeinsame Arbeit; auch das Jelinek-Gastspiel mit Fritzi Haberlandt und Susanne Wolff war eine Produktion des Schweizers. Man schätzt einander sehr. Was während einer Probenpause im Marmorsaal des Schauspielhauses sofort zu spüren ist – hier ist es Linn Reusse, die sanft ins Schwärmen gerät: „Ich mag Jossis feine, zurückhaltende, respektvolle Art. Das ist wirklich ein Geschenk. Er ist überhaupt kein autoritärer Typ. Und ich genieße es, mit verschiedenen Charakteren zusammenzuarbeiten.“
Naheliegend, dass ihre Herkunft daran nicht ganz unbeteiligt war. Seit frühester Kindheit ist Linn Reusse vom Theater umgeben. Die Großeltern, der Vater, Onkel und Tante, Cousin und Cousine – alle waren oder sind Schauspielerinnen und Schauspieler. Die Schwester nicht – die ist Kostümbildnerin. Großvater Peter Reusse war in der DDR ein Defa-Star, 2022 starb er im Alter von 81 Jahren. Seine Stimme bleibt trotzdem präsent: In der Synchronisation des tschechischen Märchenfilms „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ von 1973 spricht er den Prinzen.
Linn Reusse über die Schauspielerei: „Ich habe relativ früh gemerkt, dass es mich kickt.“
Ein Familientreffen des Reusse-Clans darf man sich anekdotenreich vorstellen. Linn Reusse lacht und nickt: „Als wir klein waren, habe ich besonders Weihnachten geliebt – es war so quirlig, aufregend und immer laut.“ Schon als Kind stand auch Linn regelmäßig im Synchronstudio und irgendwann, unter anderem in der die Titelrolle für den Kinofilm „Die Rote Zora“, vor der Kamera. „Ich habe relativ früh gemerkt, dass es mich kickt.“
Die Familie sei anfangs eher skeptisch gewesen, erzählt Reusse, „weil die ja alle wussten, wie anstrengend ein Leben mit diesem Beruf sein kann“. Ihr selbst sei jedoch klar gewesen, „dass ich eine Ausbildung will, dass ich nicht einfach weitermachen will. Der Ursprung ist für mich die Bühne.“ Und die Bühne ist interessiert: Nach der Lehrzeit an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ ging es für Linn Reusse direkt ins Festengagement.
Dreharbeiten sind mittlerweile seltener geworden. Die Zeit ist zu knapp. Was daran liegen könnte, dass dieser Spielerin ein einziges Ensemble, eine einzige Leidenschaft nicht genug sind: Sie zeichnet für den „Mental Health“-Blog einer befreundeten Journalistin, sie malt, und neben der Arbeit am Deutschen Theater wie jetzt auch neben dem Engagement am Schauspielhaus war und ist Linn Reusse Mitglied eines freien Kollektivs, des Neuen Künstlertheaters. Gegründet wurde das aus der Schauspielschule heraus.
„Wir wollten an dem Gedanken dranbleiben, weiter zu lernen, uns hält die Frage zusammen, wie wir Theater gestalten wollen.“ Das gemeinsame Ziel: irgendwann ein eigener Ort. Bis dahin beweist die Gruppe in der Spielstätten-Auswahl Kreativität: Im April wird ein Abend des Neuen Künstlertheaters in Berlin wiederholt, den die Gruppe in der früheren Privatwohnung des Dramatikers Heiner Müller inszeniert hat.
Linn Reusse gefällt an der Kollektivarbeit die Möglichkeit, gelegentlich für andere Bereiche des Gesamtkunstwerks Theater verantwortlich zu sein, den Blickwinkel zu wechseln: „Ich baue zum Beispiel gern Videoinstallationen, was ich hier am Schauspielhaus eher nicht als meine Rolle sehe. Hier bin ich ganz klar Schauspielerin, und das finde ich gut. “ Wobei ihr auch die Perspektive der Zuschauerin wichtig ist: „Ich versuche, möglichst viel anzugucken. Aber ich kann im Theater nicht wirklich den professionellen Blick abschalten. Vielleicht im Kino, am ehesten in der Musik. Am Theater gucke ich anders. Was manchmal schade ist!“
Für Linn Reusse war das Schauspielhaus immer „in einer persönlichen Top-drei-Liste“
Sieben Spielzeiten hat die 31-Jährige unter Ulrich Khuon am Deutschen Theater verbracht. Prägende Jahre. Im vergangenen Sommer ist der Intendant, der zuvor lange Jahre auch in Hamburg am Thalia Theater gewirkt hatte, in den Ruhestand gegangen. Ein Einschnitt, der für Linn Reusse ebenfalls einen Wendepunkt markierte. „Es war Zeit für etwas Neues. Das war durchaus schmerzhaft, weil ich mit dem Haus so viel verbinde.“ Ihr Großvater war einst 20 Jahre am Deutschen Theater engagiert, zeitgleich haben beide dort jedoch nie gespielt. „Leider nicht! Er hat die Bühne 1993 verlassen, heute würde man wohl von einem Burn-out sprechen. Er betrat das Haus anschließend nie wieder – bis ich dort angefangen habe. Da musste er. Und das war auch für ihn ganz schön, glaube ich.“
Auf den Abschied in Berlin folgte der Neustart in Hamburg. Das Schauspielhaus sei für sie immer „in einer persönlichen Top-Drei-Liste“ gewesen, sagt Linn Reusse nachdrücklich. Vorsprechen musste sie nicht mehr. „Ich war unglaublich glücklich, als ich das Angebot bekam. Es ist toll, jetzt eine weibliche Chefin zu haben, eine Regie führende Intendantin, die aber gleichzeitig auch ganz andere Regiehandschriften am eigenen Haus zulässt. Das finde ich sehr wertvoll.“
Dem neuen Arbeitsplatz nähert sich Linn Reusse gewissermaßen auf Umwegen: Ihr Schauspielhaus-Debüt, die Performance-Installation „Das 13. Jahr“ der Gruppe Signa, fand nicht am Haupthaus in der Kirchenallee statt, sondern in einer Altonaer Lagerhalle. Was abseitig klingt, war ein durchgängig ausverkaufter Publikumserfolg. So erfolgreich, dass sogar gefälschte Tickets im Umlauf waren. Bis nach Mitternacht saß man nach den Vorstellungen noch beieinander, hat zusammen aufgeräumt, zusammen gegessen und geredet. „Es war ein irres Miteinander. Auch das kann Theater sein.“
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Nun also „Orlando“, große Bühne. Eine klare Rolle haben Reusse und die anderen Kolleginnen wie Hildegard Schmahl, Bettina Stucky und Sandra Gerling in dem Stück nicht. „Wir nehmen die Figuren eher als Schablonen, wir erzählen ,Orlando‘, als wären wir alle Autorinnen, die den Stoff gemeinsam schreiben.“ Der Roman unternehme „den groß angelegten und ungeschützten Versuch, Kunst und Leben zu verbinden“, heißt es in der Ankündigung des Theaters – etwas, was gerade sehr passt zur Situation von Linn Reusse.
Ob sie sich in Hamburg schon heimisch fühlt? Vielleicht. Manchmal. Immer öfter. Das Wetter „könnte besser sein“, das Publikum aber sei ausgesprochen freundlich und zugewandt. „Und die Begrüßung mit ,Moin‘ finde ich so schön! Das ist so fröhlich und nett. Das mag ich.“ Selbst habe sie noch kein „Moin“ ausprobiert, gesteht Linn Reusse. „Das traue ich mich noch nicht.“ Sie lacht. „Aber ich übe!“