Winsen. Einen Termin beim Kinderarzt zu bekommen, gleicht aktuell einem Sechser im Lotto. Doch die Schuld liegt nicht allein bei der Politik.

Es war eine bestürzende Erkenntnis nach einer spontanen Recherche: Vor drei Tagen hatte die Abendblatt-Redaktion versucht, akut einen Arzttermin für ein erkranktes Kind zu bekommen. Doch von zehn Praxen, die eigentlich ans Telefon hätten gehen müssen, waren zehn nicht zu erreichen.

Eine Situation, die viele Eltern seit Längerem kennen – und die beiträgt zu einer Gesamtstimmung, die nicht gerade positiv ist. Denn nicht nur die kinderärztliche Versorgung, auch der akute Medikamentenmangel geben Eltern kleiner Kinder Anlass zur Sorge. Schließlich hat die Grippe-Saison gerade erst begonnen.

Viele Termine beim Kinderarzt könnten vermieden werden

Detlef Haffke, Leiter der Stabsabteilung Kommunikation und Information bei der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN), sieht eine Erklärung für die aktuelle Terminnot beim Kinderarzt auch im veränderten Elternverhalten: „Wir stellen eine Tendenz zur überproportionalen Inanspruchnahme von Ärzten fest, Eltern gehen mit ihren Kindern häufiger zum Arzt als früher.“

Für dieses Verhalten nennt Haffke folgende Gründe:

  • Viele Eltern seien nicht mehr vertraut mit Maßnahmen, mit denen sich ein Arzttermin vermeiden lässt, etwa Wadenwickel gegen Fieber.
  • Das Dr.-Google-Phänomen: Eltern suchen nach Symptomen im Internet und stoßen auf extreme Verläufe: „Das ist normal, der Mensch tendiert dazu, sich das Schlimmste zu merken“, so Haffke.
  • Überbordende Bürokratie: Fehlt ein Kind krankheitsbedingt im Kindergarten oder in der Schule, brauche es häufig ein Attest, um zurückkehren zu können – auch, wenn es wieder völlig gesund sei. Allein das blockiere viele Termine in den Arztpraxen.
  • Berufstätigkeit der Eltern: Es gibt zwar einen Rechtsanspruch auf Freistellung von der Arbeit, wenn kranke Kinder betreut werden müssen (10 Arbeitstage pro Kind pro Elternteil). In der Praxis könne sich wiederholtes Fehlen am Arbeitsplatz aber als karrierehinderlich erweisen. Wenn Kinder krank in die Kita oder Schule geschickt werden, pochten die Institutionen zurecht auf eine ärztliche Gesundschreibung.
  • Viel mehr Vorsorge: Zu den sechs empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen für Babys, vier für Kleinkinder und zwei für Schulkinder sind zwei weitere für Teenager bis zum 15. Lebensjahr hinzugekommen. Zugenommen hat auch die Zahl der empfohlenen Impfungen.
  • Ein unerwarteter Geburtenanstieg und die wachsende Zahl von Asylsuchenden und Migranten, die in der Bedarfsermittlung der Kassenärztlichen Vereinigungen nicht berücksichtigt werden, erhöhen nach Haffkes Einschätzung ebenso die Terminnot in den Praxen.

Doch von diesen Punkten abgesehen: Gibt es tatsächlich eine Versorgungslücke bei Kinder- und Jugendärzten im Landkreis Harburg? Darüber, welcher Kassenarzt sich wo niederlassen darf, entscheiden nicht die Ärzte selbst. Sie richten sich nach den Vorgaben der Kassenärztlichen Vereinigung des Bundeslandes, in dem sie leben. Grundlage der Vorgaben ist die so genannte Bedarfsplanung: ein rein rechnerisches Instrument.

Im Landkreis Harburg beträgt der Versorgungsgrad der Kinderärzte 108,2 Prozent

Im Landkreis Harburg wohnen laut Kassenärztlicher Vereinigung 46.429 Kinder und Jugendliche. Gemäß Bedarfsplanung soll ein Kassenarzt 2911 Patienten versorgen. Rein rechnerisch gibt es im Landkreis Harburg 17,25 Kinder- und Jugendärzte (halbe Stellen eingerechnet). Damit besteht im Landkreis ein Versorgungsgrad von 108,2 Prozent – ab einem Deckungsgrad von 110 Prozent wäre von Überversorgung die Rede.

Mehr zum Thema

Ähnlich sieht es im Landkreis Lüneburg aus wo 31.377 Kinder und Jugendliche leben und 14 Kinder- und Jugendärzte tätig sind. Mit einer Deckungsquote von 128,9 Prozent ist dieser Landkreis nach Berechnung der KV Niedersachsen also deutlich überversorgt. Im Landkreis Stade stehen 38.114 Kindern und Jugendlichen 14 Kinder- und Jugendärzte zur Verfügung, das macht eine Deckungsquote von 105,8 Prozent.

Nur: Realität und Berechnung scheinen in diesem Fall nicht mehr zusammenzupassen. Doch um die Bedarfsplanung anzupassen, braucht es mehr als die Einsicht, dass offensichtlich etwas schiefläuft. „Das ist eine politische Entscheidung“, so KVN-Sprecher Haffke.