Landkreis Harburg. Trotz statistisch guter ärztlicher Versorgung hakt es im Kreis Harburg und dem Umland: eine Bestandsaufnahme in Fragen, Antworten und Grafiken
Dauerbesetzte Telefonleitungen, Schlangen vor den Praxen, monatelanges Warten auf Facharzttermine und Aufnahmestopps: Bei vielen Patienten in der Region herrscht Frust – und das seit Jahren. Wo liegt das Problem? Was sagt die Statistik? Und ist Besserung in Sicht?
Das Abendblatt hat bei denjenigen nachgefragt, die medizinische Versorgung vor Ort verantwortlich sind: die Kassenärztliche Vereinigung und der Landkreis.
Gibt es zu wenige Haus- und Fachärzte im Süden Hamburgs und der Region?
Nein, sofern man nach den Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) geht. Die KV haben deutschlandweit im Blick, wo wie viele Ärzte praktizieren. Sie berechnen regelmäßig die sogenannte Versorgungsquote und haben den gesetzlichen Auftrag zur „Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung“.
Im Landkreis Harburg und in der Umgebung ist laut Kassenärztlicher Vereinigung Niedersachsen (KVN) alles im grünen Bereich. Für fast alle Fachärzte (wie Augen- oder Kinderärzte) herrscht sogar ein Zulassungsstopp. Ausnahme sind die Frauenärzte. Auch die Versorgung mit Hausärzten liegt nahe 100 Prozent. Allerdings dürften sich rechnerisch noch 21,5 Hausärzte im Kreis Harburg niederlassen.
Der Bezirk Harburg ist bis auf Hals-Nasen-Ohren-Arzte für Ärzte aller Richtungen wegen Überversorgung gesperrt.
Das kann doch nicht stimmen. Wie kommt die Kassenärztliche Vereinigung auf die Zahlen?
Wie viele Haus- und Fachärzte in den Regionen arbeiten können, welche Grenzen bei Stellen gelten und wann eine Sperre für weitere Ärzte gilt, steht in der Richtlinie für die Bedarfsplanung für niedergelassene Ärzte. Sie gilt seit 1990 und wurde mehrfach angepasst, aber nicht grundlegend verändert. Die Kassenärztlichen Vereinigungen können in geringem Maße „regionale und lokale Besonderheiten“ in die Bedarfsplanung einfließen lassen.
Als unterversorgt gilt ein Planungsbereich ab einer Quote geringer als 75 Prozent. Bei Fachärzten liegt diese Grenze bei 50 Prozent. Erst dann schreiten die KV mit Sondermaßnahmen ein. Von diesen Werten sind alle Planungsbereiche im Hamburger Süden und Umgebung weit entfernt.
Eine Überversorgung stellt die Kassenärztliche Vereinigung ab 110 Prozent fest – dann wird eine Sperre für Niederlassungen verhängt.
Jetzt will ich es genau wissen. Kann ich herausfinden, wie die Lage in meinem Wohnort ist?
Nicht exakt. Die Versorgungsquote für Hausärzte im Landkreis Harburg wird für drei Planungsbereiche berechnet. In den Bereichen Winsen und Buchholz liegt die Versorgungsquote unter 100 Prozent, in Harburg-Nord darüber. Die genauen Zahlen sind in der Grafik (oben) zu sehen – auch für die Buxtehude und Lüneburg.
Die fachärztliche Versorgung wird nur für den gesamten Landkreis berechnet.
Der Bezirk Harburg ist in den Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH) nicht als einzelner Planungsbereich aufgeschlüsselt. Klar ist: Ganz Hamburg ist für Niederlassungen gesperrt. Für Hausärzte liegt der Wert bei 112,46 Prozent. Ein Blick in die Zahlen des Statistikamts Nord verrät aber, dass im Bezirk Harburg deutlich mehr Patienten auf einen Hausarzt kommen, als vorgesehen.
Warum werden die Zahlen nicht an die Realität angepasst?
Die Bedarfsplanung steht immer wieder in der Kritik. Auch Reiner Kaminski, Sozialdezernent beim Landkreis Harburg und damit zuständig für das Gesundheitswesen, kritisiert das aktuelle Instrument seit Jahren. Zur Richtlinie sagte er dem Abendblatt einmal: „Bei ihr handelt es sich um keine Versorgungs-, sondern um eine gedeckelte Bedarfsplanung.“
Niedersachsens KV-Sprecher Detlef Haffke sagt: „Der Versorgungsbedarf einer Region nach der gesetzlich vorgegebenen Bedarfsplanung ist ein theoretisches Rechenmodell“, das für Probleme in der Realität sorge. Wie viele Ärzte pro Einwohner benötigt würden, orientiere sich derzeit nicht sehr stark am tatsächlichen und zukünftigen Versorgungsbedarf.
Doch auf regionaler und lokaler Ebene fehlt der Hebel für strukturelle Veränderungen. Verantwortlich für die deutschlandweite Bedarfsplanung für Kassenärzte ist der Gemeinsame Bundesausschuss. Der hat 13 stimmberechtigte Mitglieder. Einen starken Einfluss haben die Krankenkassen mit fünf Sitzen und Stimmen. Die Kassenärzte selbst haben zwei Sitze. Das Gremium steht vor dem Zwiespalt, dass mehr Ärzte die Versorgung verbessern können, aber höhere Kosten verursachen.
Im Landkreis Harburg und Umgebung gibt es noch unbesetzte Sitze für Hausärzte. Warum ist das so?
151,5 Hausarztstellen (nach Zulassungsumfang) sind im Landkreis Harburg besetzt – und damit 21,5 Plätze frei. In Harburg-Nord dürfen sich weitere 5 Hausärzte niederlassen, in Winsen 6,5 und in Buchholz 10.
Weil es Mediziner eher in die Städte ziehe und viele lieber als Facharzt arbeiteten, entspreche die aktuelle Verteilung längst nicht den Anforderungen der Patienten in der jeweiligen Region. So die Einschätzung von KVN-Sprecher Detlef Haffke. Außerdem habe die Ärzteschaft ein Nachwuchsproblem: „Grundsätzlich werden zu wenig Mediziner an den Hochschulen ausgebildet.“ Bei der Besetzung von Arztsitzen heiße das Zauberwort zudem: Work-life-balance. Die Bereitschaft, 50 oder 60 Stunden in der Woche zu arbeiten, schwinde.
Wie entwickelt sich die Zahl der Hausärzte in der Region?
Tendenziell hat sich die Zahl der niedergelassenen Hausärzte etwa im Landkreis Harburg in den vergangenen 20 Jahren sogar permanent erhöht. Die Entwicklung seit 2015 zeigt das Liniendiagramm in der Grafik (unten).
Das eigentliche Versorgungsangebot ist aber nicht in gleichem Maße angestiegen. Dass Patienten lange auf Termine warten oder keinen Hausarzt finden, liegt unter anderem an der demografischen Entwicklung. Die Menschen nehmen pro Kopf aufgrund ihres Alters mehr medizinische Hilfe in Anspruch. Auch der Wunsch nach geregelten Arbeitszeiten der Ärzte und zunehmende Teilzeittätigkeit lässt die Arztstunden schrumpfen. Von allen angestellten Ärzten in Niedersachsen arbeitet fast die Hälfte in Teilzeitmodellen. Zudem gilt die der hohe bürokratische Aufwand als lähmender Faktor.
Von 2021 auf 2022 ist die Zahl der Hausärzte im Kreis Harburg nun tatsächlich gesunken – was die Situation weiter verschärft haben dürfte. Eine Entwicklung, die sich aufgrund einer Ruhestandswelle fortsetzen könnte.
Wie alt sind unsere Ärzte? Was kommt da auf uns zu?
Eine große Zahl der Ärzte ist in einem hohen Alter – das verdeutlicht auch das Tortendiagramm. 36 der 151,5 niedergelassenen Hausärzte sind älter als 65 Jahre. Knapp ein Viertel der Mediziner hat also bereits das Rentenalter überschritten. 45 Hausärzte sind älter als 60 Jahre alt – also ungefähr ein Drittel. Eine genauere Altersstruktur der Ärzteschaft im Kreis Harburg liegt der KVN nicht vor.
Es soll schon jetzt zu Aufnahmestopps kommen. Wo hakt es besonders?
Dass es in der Region trotz rechnerisch guter Versorgung zu Aufnahmestopps bei Hausärzten für Neupatienten kommt, bestätigt die KVN. Relativiert aber: Dies sei bei Hausärzten kein Massenphänomen. Gravierender sei die Lage aktuell bei Kinder- und Jugendärzten. So auch in Hamburg – dort veröffentlichten die Kinder- und Jugendmediziner kürzlich einen Brandbrief (das Abendblatt berichtete).
Erkenntnisse darüber, wo abseits der offiziellen Statistik Brennpunkte im Landkreis Harburg und Umgebung liegen, fehlen der Kassenärztlichen Vereinigung. Wo also beispielsweise Aufnahmestopps in welcher Häufigkeit auftreten, ist der KVN schlicht nicht bekannt.
Können die vorhandenen Ärzte nicht besser verteilt werden?
Nein, nicht im Sinne einer Verpflichtung. „Es gibt keine Vorgaben, wie die Verteilung der Ärztinnen und Ärzte innerhalb einer Region gestaltet werden muss. Der Arztberuf ist ein freier Beruf“, so Detlef Haffke. Mit diversen Förderangeboten und finanziellen Anreizen soll Ärzten eine Niederlassung im ländlichen Raum schmackhaft gemacht werden.
Informationen über die Verteilung der Ärzteschaft in der Region lieferte die KV auf Nachfrage nicht.
Eine Abendblatt-Datenauswertung zeigt, dass die mehr als 150 in der Arztauskunft Niedersachsen gelisteten Hausärzte in den Zentren des Landkreises Harburg konzentriert sind. Viele Gemeinden haben demnach keinen ansässigen Hausarzt. Das Gesamtbild ist auf der Karte zu sehen:
Kreissozialdezernent Kaminski gibt zu bedenken, dass es eine gleichmäßige Verteilung der Ärzte im Kreisgebiet nie gegeben habe. Es falle schlicht besonders auf, wenn ein relativ kleiner Ort den angestammten Landarzt verliere. Doch auch Kaminski sagt vor dem Hintergrund der ärztlichen Kapazitäten: „Die Patienten müssen verstärkt in den Zentren der Kommunen nach Ärzten suchen.“ Die KVN gibt an, dass Patienten bereits jetzt und zukünftig verstärkt längere Wege in Kauf nehmen müssen.
Was ist mit den Landkreisen und Behörden – sind die nicht verantwortlich?
Die ambulante Versorgung mit niedergelassenen Haus- und Fachärzten obliegt per Gesetz ausschließlich den Kassenärztlichen Vereinigungen. Der Landkreis ist für die stationäre medizinische Versorgung unter anderem für die Kliniken verantwortlich und ist nach eigener Angabe mit den Kliniken in Winsen und Buchholz gut aufgestellt. „Wir haben im Bereich der ambulanten medizinischen Versorgung keine Steuerungsmöglichkeit“, so Kreissozialdezernent Reiner Kaminski gegenüber dem Abendblatt.
Dass die Lage im Landkreis Harburg nicht dramatischer ist, dürfte auch dem Engagement der Kreisverwaltung zu verdanken sein. Mit der Initiative „Stadtlandpraxis“ wirbt der Kreis nämlich insbesondere um den medizinischen Nachwuchs. Leiter Kaminski kann vorweisen, seit 2015 55 Ärzte (niedergelassen und angestellt) in den Landkreis geholt zu haben. Der Arztzuwachs von 24 Hausärzten zwischen 2015 und 2021 ist also maßgeblich auf die Bemühungen des Landkreises zurückzuführen.
Gibt es trotzdem Aussicht auf Besserung der Situation?
Vorerst nicht. Die Prognosen sehen düster aus. Die KVN spricht von einem „drohenden und teils bereits existierenden Ärztemangel“, der sich bis 2035 besonders auf dem Lande massiv verschärfen werde. Das geht aus einer Studie aus dem Jahr 2020 hervor. Demnach wird die Zahl der Hausärzte niedersachsenweit bis zum Jahr 2035 auf rund 3750 von jetzt 5044 (ein Minus von 25,65 Prozent) sinken.
In der fachärztlichen Versorgung werde es starke Tendenzen in Richtung Unterversorgung in den ländlichen Planungsbereichen geben. Betroffen sind die Fachgruppen der Augenärzte, HNO-Ärzte, Hautärzte, Nervenärzte und Urologen.