Winsen. Versuch zeigt: Von zehn Praxen sind im Notfall zehn nicht zu erreichen. Lage für Eltern prekär. Warum die Kinderärzte am Limit sind.

Ein Dienstagnachmittag in den Herbstferien im Landkreis Harburg. Das Besucherkind ist plötzlich krank geworden, fiebert heftig und zeigt rötlichen Ausschlag. Mutter und Gastgeberin sind gleichermaßen verunsichert. Die Gastgeberin versucht, einen Kinderarzt im Landkreis Harburg zu erreichen. Und gibt nach vierzehn vergeblichen Anrufen schließlich auf.

Drei Praxen nehmen erst gar nicht ab, obwohl laut Website gerade Sprechstunde sein sollte. Drei weitere empfehlen per Bandansage einen Anruf zu einem späteren Zeitpunkt – was dann auch nichts nützt. Zwei Praxen sind im Urlaub und nennen die Namen ihrer Urlaubsvertretungen, wo das Gespräch ebenfalls nicht angenommen wird. Auf der Bandansage einer weiteren Praxis murmelt eine Frauenstimme Unverständliches. Und eine Praxis, die Terminbuchung per Mail anbietet, teilt per E-Mail mit, im Urlaub zu sein.

Kinderarzt gesucht: Die bittere Bilanz nach einer mehrstündigen Suche

Es ist die bittere Bilanz einer mehrstündigen, mitunter verzweifelten Suche: Zehn Kinderarzt-Praxen, zehnmal keine Hilfe. „Das ist ziemlich normal“, sagt ein Vater zweier kleiner Kinder aus Dibbersen, dessen Name der Redaktion bekannt ist. Er empfiehlt: „Am besten dranbleiben, mindestens eine halbe Stunde immer wieder anrufen.“ Eine andere Mutter empfiehlt, „gleich ins Mariahilf zu fahren“ – eine Erkenntnis vieler Stunden Wartezeit in proppevollen Wartezimmern oder gleich am Telefon ausgesprochener Aufnahmestopps für Neupatienten.

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Die Helios Mariahilf Klinik Harburg gehört zu Hamburg und ist auf Kinder spezialisiert. Aber auch die Krankenhäuser Buchholz und Winsen bieten eine verlässliche Notfallhilfe an, insbesondere bei Verletzungen: „Wir haben keine Kinderärzte vor Ort. Aber Notfälle werden immer angeguckt und erstversorgt, dies gilt insbesondere für traumatologische Unfälle, also Verletzungen durch Stürze und so weiter“, so Franziska von Breunig, Geschäftsführerin der Krankenhäuser Buchholz und Winsen. Wenn eine Weiterbehandlung notwendig sei, würden die Kinder in das Partnerkrankenhaus Lüneburg verlegt.

Klafft eine Versorgungslücke bei Kinderärzten im Landkreis Harburg?

Doch was die täglichen kleinen und größeren Gesundheitsprobleme der Kinder und Jugendlichen angeht, was Beratung und Gesundheitsvorsorge angeht, klafft offenbar eine Versorgungslücke im Landkreis Harburg. Wie kann das sein?

Das Abendblatt hat bei Detlef Haffke nachgefragt. Er ist Leiter der Stabsabteilung Kommunikation und Information bei der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) und erklärt, nach welchen Rechtsgrundlagen die Bemessung von Ärztestellen erfolgt. Darüber, welcher Kassenarzt sich wo niederlassen darf, entscheidet die KV des jeweiligen Bundeslandes anhand einer Bedarfsplanung, einem rein rechnerischen Instrument.

Verband bestätigt: Auch in überversorgten Bereichen ist die Lage prekär

„Es kann sehr gut sein, dass die Bedarfsplanung nicht den Bedürfnissen der Eltern vor Ort entspricht und als unzureichend empfunden wird. Dann klagen Eltern über lange Wartezeiten und Aufnahmestopps für neue Patienten“, weiß Haffke. Doch könnten die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht abweichend von den gesetzlichen Vorgaben agieren. Einen Weg aus der Sackgasse könne, so Haffkes Überzeugung, nur eine veränderte Bedarfsplanung einleiten. „Doch das ist eine politische Entscheidung“, so der KVN-Sprecher.

Dass der hier dokumentierte Dienstagvormittag nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, bestätigt am Mittwoch Dr. Tanja Brunnert, Pressesprecherin des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzt:innen in Niedersachsen. „Generell gilt auch in den auf dem Papier überversorgten Bereichen, dass die Lage prekär ist“, sagt sie. Selbst Eltern von Neugeborenen hätten Schwierigkeiten, eine kinderärztliche Betreuung zu finden. „Die Praxen sind weiterhin am Limit“, so Brunnert weiter.

Der größte Zeitfresser der Kinderärzte: Nach knappen Medikamenten suchen

Als besondere Zeitfresser in der Praxisarbeit nennt sie die gegenwärtige Medikamentenknappheit: „Wir müssen mit Apotheken telefonieren, um Ausweichpräparate zu finden.“ Auch seien Termine bei anderen Fachärzten zunehmend schwer zu vereinbaren. Der möglicherweise herannahenden Influenzawelle sieht Brunnert mit großer Sorge entgegen.

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Die Grippewelle werde, wenn sie denn eintrete, wieder alle Praxisinhaber an die „Grenze des Machbaren“ bringen. „Die Bereitschaft der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, sich hier weiter aufzuopfern und am Rande der Erschöpfung zu arbeiten, ist deutlich gesunken“, macht Brunnert klar. Überdies sei eine Vielzahl von Praxisinhabern am Ende ihrer Arbeitszeit angekommen und Nachfolger seien kaum in Sicht.