Stade. Der Industrie- und Chemiestandort braucht dringend eine Zukunftsperspektive. Nun scheint der richtige Mann für den Job gefunden.

Nein, Stephan Engel hat Chemie nicht abgewählt. „Ich hatte Leistungskurs Chemie“, sagte der Dow-Manager, der Anfang kommenden Jahres die Leitung eines neuen Projekts zur Standortentwicklung der Industrie in Stade übernimmt. Engel will an seinem neuen Arbeitsplatz gemeinsam mit der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, dem Landkreis Stade, der Hansestadt Stade und dem niedersächsischen Wirtschaftsministerium an einer Zukunftsperspektive für den Industrie- und Chemiestandort Stade arbeiten, mit dem annähernd 10.000 Arbeitsplätze verbunden sind.

Für diese neu geschaffene Stelle hatte sich Niedersachsens WirtschaftsministerOlaf Lies (SPD) – der Hauptgeldgeber für das Projekt – jemanden gewünscht, der „Chemie nicht abgewählt hat“, wie er bei der Auftaktveranstaltung im Stader Kreishaus in dieser Woche sagte. Mit Engel hat der Minister den gewünschten und bei allen Projektpartnern akzeptierten Experten bekommen.

Vom Chemiestandort Stade hängen rund 10.000 Arbeitsplätze ab

Der bisherige Dow-Geschäftsführer, der zum Jahresende nach 33 Jahren am Standort Stade ausscheidet, besetzt mit der Projektleitung einen Posten von hoher Relevanz: Seit Ansiedlung des amerikanischen Chemieunternehmens Dow im Jahre 1972 hat sich der Standort zum größten Chemiechlor-Standort in Europa entwickelt. Stade zählt zu den bedeutendsten Industriestandorten in Niedersachsen überhaupt.

Vom etwa 30 Meter hohen Turm der biologischen Kläranlage im DOW-Werk in Stade bietet sich ein spektakulärer Blick bis hin zu Elbe.
Vom etwa 30 Meter hohen Turm der biologischen Kläranlage im DOW-Werk in Stade bietet sich ein spektakulärer Blick bis hin zu Elbe. © Christian Hager, HAGERpress | Christian Hager

Inzwischen ist dort ein chemischer Industriepark entstanden, in dem auch andere international tätige Unternehmen wie AOS, OLIN, IFF und Trinseo tätig sind. Produziert werden vor allem Produkte für die weiterverarbeitende Industrie. Die chemische Industrie bildet den industriellen Schwerpunkt im Raum Stade. Tausende Arbeitsplätze sind direkt oder indirekt dort angesiedelt.

Versorgungssicherheit und hohe Energiekosten bedrohen die Wettbewerbsfähigkeit

Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer bedrückt zurzeit vor allem ein Problem: die Energiefrage. Die Versorgungssicherheit in diesem Bereich und die hohen Energiekosten, die mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine enorm gestiegen sind, bedrohten die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und somit viele Arbeitsplätze, so die beim Projektstart am häufigsten geäußerte Sorge.

Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) sichert im Kreishaus seine Unterstützung für den Chemie- und Industriestandort Stade zu.
Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) sichert im Kreishaus seine Unterstützung für den Chemie- und Industriestandort Stade zu. © HA | LK Stade/Schmidt

Der Wirtschaftsminister hob vor allem die positiven Seiten hervor, denn Olaf Lies hofft auf weitere Investitionen. Stade als einer der bedeutendsten Chemiestandorte in Deutschland und größter Chlorchemiestandort in Europa habe „nahezu perfekte Standortbedingungen“ mit Ausbaureserven, Hafenanlagen und einer direkten Anbindung an die Energienetze.

Stade ist der größte Chlorchemiestandort in Europa

Nicht zuletzt sei das Know-how vor Ort herausragend, geradezu ein Magnet und wichtig für die Ausbildung und Anwerbung von Fachkräften. „Wir brauchen diesen Standort, er hat Zukunft“, betonte Olaf Lies bei seinem Besuch im Stader Kreishaus vor Vertretern aus Geschäftsführungen, Betriebsräten, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, Verwaltungen und Politik.

Der Chemie- und Industriestandort Stade-Bützfleth gehört zu den wichtigsten Wirtschaftsarealen der Region.
Der Chemie- und Industriestandort Stade-Bützfleth gehört zu den wichtigsten Wirtschaftsarealen der Region. © HA | Martin Elsen

Sie alle zeigten sich bereit für den großen Schulterschluss unter Federführung von Stephan Engel. „Diese Aufgabe reizt mich ganz besonders. Ich freue mich, dass unser Netzwerk sehr breit aufgestellt ist und wir gemeinsam an einem Strang ziehen“, sagte Engel, der nicht nur spitze in Chemie ist, sondern auch ein Fachmann in Sachen Energie. Bei Dow koordinierte er die gesamte Energieversorgung für die Werke in Deutschland. Die Produktion dort ist extrem energieintensiv: Allein das Werk in Stade verbraucht ein Prozent des gesamtdeutschen Stroms.

Dow-Werk Stade verbraucht ein Prozent des gesamtdeutschen Stroms

„Die Kosten dafür sind um 70 Prozent gestiegen. Wir brauchen dringend Brückenstrom. Wenn wir das nicht klären, haben wir auf Dauer keine Zukunft“, sagte Dow-Betriebsratschef Thorsten Mellin dem Hamburger Abendblatt. Die Produktion sei gedrosselt, Investitionen in das Werk in Stade seien von dem unter US-Führung stehenden Konzern gestoppt worden. Bezahlbare Energie sei daher die Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts.

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Die Energiepreise müssten runter – darüber waren sich im Saal alle einig. „Es muss jetzt darum gehen, dass unsere Industrie diesen Weg überhaupt schaffen kann“, sagte Stades Landrat Kai Seefried: „Es steht außer Frage, dass wir einen verlässlichen Energiepreis brauchen.“ Die Region müsse jetzt zusammenstehen. „Wir müssen unsere Industrie zukunftsfähig aufstellen. Stadt und Landkreis würden ohne die Industrie vor Ort ganz anders aussehen“, so Seefried.

Wirtschaftsexperten befürchten Abwanderung von energieintensiven Unternehmen

Die hohen Energiekosten sind zur Innovationsbremse geworden. Wirtschaftsexperten befürchten ein Abwandern von energieintensiven Unternehmen und damit auch von Arbeitsplätzen aus der Region. Der Chemiestandort Stade sei entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, betonte Niedersachsens Wirtschaftsminister Lies – etwa bei der Energiewende, beim Bauen und bei Gesundheitsthemen.

Das Dow-Werk in Stade verbraucht ein Prozent des gesamtdeutschen Stroms.
Das Dow-Werk in Stade verbraucht ein Prozent des gesamtdeutschen Stroms.

Diese Bereiche seien eng mit der Chemieindustrie verwoben. Für mehr Akzeptanz der Branche in der Bevölkerung und für einen subventionierten Industriestrompreis oder Brückenstrom müsse den Menschen erklärt werden, wie wichtig die Chemieindustrie sei – insbesondere auch für die Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit.

Produkte der chemischen Industrie werden fast überall benötigt

In Stade werden so unterschiedliche Stoffe wie Epoxidharze für Gartenmöbel, Verbundstoffe für Windrotorblätter oder Druckbehälter, Baustoffe für medizinisches Gerät oder Grundstoffe für Medikamente, vegetarischen Fleischersatz oder glutenfreie Backwaren hergestellt. Das zeige sehr deutlich, dass es bei einer Standortentwicklung nicht nur um Arbeitsplätze gehe, so die SPD-Landtagsabgeordnete Corinna Lange. „Vielmehr ist die chemische Industrie heute Katalysator und Innovationstreiber für Klimaschutz, nachhaltige Produktion, Ressourceneffizienz und die Transformation unserer Wirtschaft.“

Viele Wirtschaftszweige seien ganz unmittelbar von der chemischen Industrie, ihren Prozessen, Verfahren und Produkten abhängig. „Wir können es uns nicht leisten, diese Innovationskraft und vor allem die Grundstoffe zu verlieren. Ein Abwandern der chemischen Industrie schafft neue Abhängigkeiten, die wir nicht mehr wollen“, so Lange weiter.

Minister bekennt sich zum Industriegleis und Autobahn-Ausbau

Olaf Lies schlug vor, Hochschulen und andere Bildungsträger stärker in die Standortentwicklung einzubeziehen. Zu diesem Thema sei er bereits im Gespräch mit dem niedersächsischen Wissenschaftsminister Falko Mohrs. Der Wirtschaftsminister bekannte sich in Stade zum Bau des Industriegleises und zum Ausbau der Autobahninfrastruktur als weitere wichtige Faktoren zur Verbesserung der Situation des Chemiestandortes.

„Die Geschlossenheit, die von hier ausgeht, ist ein starkes Zeichen. Ein solcher Standort hat eine Zukunftsperspektive verdient“, sagte Lies, dessen Ministerium einen großen Teil der Kosten für das neue Projekt zur Standortförderung übernimmt. Es wird mit 300.000 Euro gefördert und ist auf drei Jahre ausgelegt.