Hamburg. Gastronomen und Hoteliers haben interessante Konzepte von Timmendorf bis Neustadt umgesetzt – auch am Rande der Legalität.
Wer kommt denn auf so eine bescheuerte Idee? Schwarze Strandkörbe? Wohl in der Schule nicht aufgepasst! Schwarz zieht die Sonne an, dann heizt sich der ganze Korb auf, niemand wird einen solchen Korb buchen. „Was ich mir alles anhören musste“, sagt Tung Truong. Der Geschäftsführer vom Grande Beach und dem Café Wichtig in Scharbeutz schaut auf seine „unmöglichen“ Strandkörbe. Alle belegt. Seit 9 Uhr schon. Jetzt ist es 17 Uhr, das Thermometer protzt mit 34 Grad, und noch immer ist niemand an Hitzschlag gestorben. „Hab ich wohl doch in der Schule aufgepasst“, sagt Truong und lacht.
Der 42-Jährige war in Chicago, London, Berlin und Hamburg als Gastronom tätig, nun arbeitet er seit 2015 an der Ostsee und denkt sich jedes Jahr etwas Neues aus. In der Beach Lounge können die Kunden beispielsweise per Knopfdruck bestellen. Ein Funksignal wird an die Pager der Kellner geschickt, so muss niemand im Gedränge verzweifelt nach einer Bedienung Ausschau halten. Oder die Gäste können sich vorab von zu Hause bereits online einen Picknickkorb für 29 Euro zum Strandkorb hinzubuchen. Clever dabei: Truong hat seine Gastronomie damit bis an die Wasserkante erweitert und beachtet gleichzeitig das Serviceverbot am Strand. „Ich bediene niemanden, die Gäste holen sich den Korb ja bei uns ab“, erklärt Truong.
Als Nächstes überlegt er, unterschiedliche Preise für die Getränke einzuführen (von Mo bis Do günstiger als am Wochenende) und Massagen und Maniküren am Strand anzubieten. Doch Vorsicht, auch hier wartet wieder ein Verbot: kein Gewerbe am Strand. Truong räumt ein paar leere Apérol-Spritz-Gläser zur Seite: „Dabei gibt es so viel Nachfrage. Ich will ja nicht gleich eine Revolution, aber eine Evolution, die sollte schon stattfinden. Die Gäste haben ganz andere Ansprüche als früher.“
Große Opfer für die Modernität
Es sei doch schade. „Jeder mit einer ungewöhnlichen Idee bekommt erst mal Steine in den Weg geworfen“, sagt Stefan Wolf. Der international gefragte Steinmetz hat unter anderem die Dünenmeile mitgestaltet, jetzt liegt der Scharbeutzer mit seiner Familie am Strand und schaut sich um. Er weiß genau, wer von hier ist und wer im Urlaub. Wolf nennt die Unbekannten Gäste, er würde nie Touristen sagen. Ihm missfällt diese Rivalität, die von einigen zwischen Einheimischen und Touristen aufgebaut wird. Die Touristen nehmen den Ortsansässigen angeblich alles weg. Parkplätze, Termine beim Arzt, das letzte Grillfleisch im Supermarkt.
Keine gute Entwicklung, fand Wolf und gründete die Facebook-Gruppe ‚We love Scharbeutz‘. Jeden Morgen fährt er vor der Arbeit an den Strand und stellt ein Foto in die Gruppe, andere machen es ihm inzwischen nach, außerdem wird natürlich viel über aktuelle Entwicklungen an der Küste diskutiert. „Die Leute sollen sich mit ihrem Ort identifizieren können, das ist wichtig,“ findet Wolf. „Aber wer das verschlafene Nest von früher zurückwill, dem muss ich sagen: Hallo! Wir leben in einer Urlaubsregion. Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.“
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Und da reicht es nicht immer, mal einen Teppich auszutauschen oder Cappuccino mit Hafermilch auf die Karte zu setzen. Andrea Iskra vom Strandkind in Neustadt war bereit, für die Modernität ein großes Opfer zu bringen. Das Hotel, das sie in vierter Familiengeneration führte, ließ sie komplett abreißen. „Ich hatte Angst, meine Eltern würden aus ihrem Grab wieder aussteigen“, erzählt die 46-Jährige. „Eine große emotionale Schlinge befand sich um meinen Hals.“ Doch gemeinsam mit ihrem Mann Olaf hatte sie lange hin und her überlegt. Wenn sie etwas wirklich Nachhaltiges schaffen wollten, ein ganz neues Produkt, dann hätten weitere Investitionen in das Hotel, das ihr Urgroßvater 1917 eröffnete, keinen Sinn. Dann lieber gleich fünf Millionen Euro in die Hand nehmen und ein Haus errichten, das in allem innovativ ist: in seiner Bauweise, in seiner Mitarbeiterführung, in seiner Gästebetreuung.
Familien sollen jeden Tag etwas Schönes erleben
Am Tag des Abrisses lag Andrea Iskra krank im Bett. Die Bulldozer schlugen zu, Iskra litt. Doch sie wusste genau: Wir müssen uns neu erfinden. Jede Generation braucht die, die einen anderen Weg einschlagen, glaubt Iskra: „Wenn ich gemein wäre, würde ich fragen, was haben meine Eltern und Großeltern denn für ihren Erfolg tun müssen? Sie haben morgens die Hoteltür aufgesperrt, und das Ding lief von alleine.“ Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Die Deutschen können überall hinreisen; mit dem Flieger nach Mallorca beispielsweise, da ist ein Familienurlaub teilweise sogar billiger als eine Woche an der Ostsee.
Also gilt es, kreativer zu sein. Iskra wollte beispielsweise eine Elektroladestation vor dem komplett aus Holz gebauten Gebäude, in dem kein einziges Kabel hinter Betten verläuft und jeder Türrahmen verschraubt wurde. Wieso denn bitte kein Bauschaum? Machen doch alle so. Die Handwerker schüttelten den Kopf. Doch die Neustädterin zog ihr Ding durch. Nun unterrichtet sie ihre Gäste im Bogenschießen, ihr Mann wiederum ist Hochseilgartentrainer, Familien sollen im Hotel Strandkind jeden Tag etwas Schönes erleben dürfen. „Wir möchten eine Insel sein. Gucken Sie sich doch die Mütter von heute an. Die sind doch fast alle suizidgefährdet, so viel Stress haben sie“, sagt Iskra, die weiß, wovon sie spricht. Ihre Kinder lagen auf der Krabbeldecke hinter dem Rezeptionstresen damals. Das Wort „Doppelbelastung" hat die Hotelbesitzerin quasi mit erfunden.
Dankbare Mutter
Neulich kam eine Mutter zu ihr und sagte mit Tränen in den Augen: „Ich muss Ihnen danken. Ich weiß, meine Kinder sind furchtbar laut. Aber hier dürfen sie ausnahmsweise so sein, wie sie sind, ohne dass sie jemand bewertet. Zum ersten Mal im Urlaub fühlen mein Mann und ich uns nicht schlecht.“ Es sei einfach Zeit für einen Wandel gewesen, findet Andrea Iskra, auch infrastrukturell. „Wir sind hier doch lange in den 70ern stehen geblieben.“
Doch in den letzten Jahren wurde einiges getan. Neue Hotels wie das Arborea, das a-ja-Resort in Travemünde, das Beach Motel in Heiligenhafen, die Waterfront auf dem Priwall eröffneten. In Planung ist in Grömitz der Bau eines Hotels oberhalb des Yachthafens, und in Großenbrode entsteht direkt an der Strandpromenade die Appartementanlage „MeerVilla 54“.
Neue Promenaden
Neue Promenaden und Seebrücken wurden gebaut oder werden bald fertiggestellt. In Scharbeutz etwa 2020 eine Seebrücke mit Sonnenterrasse als Sitzlandschaft, und in Travemünde sollen die Gäste von der Traveterrasse aus die dicken Pötte vorbei auf dem Weg zum Skandinavienkai und zurück beobachten können.„Bis vor ein paar Jahren gab es nur Plattenwege am Strand und Holzstege ins Meer. Eine fast gleichgültige Bauweise ohne jeden maritimen Charme“, sagt Katja Lauritzen, Geschäftsführerin vom Ostsee-Holstein-Tourismus. „Unser Ästhetikempfinden hat sich aber verändert.“
Außerdem gönnte sich die Gastronomie am Strand endlich mal eine Botoxkur. Für ein jüngeres Zielpublikum gibt es nun 15 Beach Lounges entlang der ganzen Küste wie die 360 Grad Bar auf Fehmarn, das Deck 7 in Heiligenhafen oder die Lighthouse Lounge in Travemünde. Sogar die Strandkioske umweht nun ein Hauch von Luxus, zumindest bei der Bude 8 kommt es einem so vor. Von außen sieht der Kiosk am Timmendorfer Hundestrand aus wie alle anderen, aber dann probiert man Fischsuppe oder Lachsbrötchen mit Kaviar-Schmand und denkt erstaunt: „Ist das hier eine versteckte Sterneküche?“
Hamburger sonntags im Restaurant Hamptons
Tatsächlich. Der „Imbiss“-Betreiber Jens Häberle war Souschef in der „Orangerie“ und führte 16 Jahre lang das Restaurant Die Muschel. Auszeichnung über Auszeichnung, aber der Burn-out winkte bereits drohend um die Ecke: „Bald bin ich dein ungebetener Gast!“ Also sagte Jens Häberle eines Abends zu seiner Gattin: „Ich habe den Laden verkauft.“ Seine Frau nickte und fragte: „Und was machen wir jetzt?“ „Ein Jahr Urlaub.“ Aus der geplanten Auszeit wurden dann zwei Wochen, denn in der Zeitung sahen sie eine Anzeige: „Kiosk-betreiber gesucht.“ Häberle überlegte: „Ich kann Perlhühner und keine Currywurst. Aber es muss auch gutes Essen geben, das bezahlbar bleibt.“
Jetzt steht Häberle im Sommer von morgens 8 Uhr bis abends 23 Uhr im Kiosk. Aus seinem Vorhaben, weniger zu arbeiten, wurde also nichts, aber der 55-Jährige wirkt extrem glücklich: „Wir haben einen Nerv der Zeit getroffen, die Leute sind viel qualitätsbewusster.“ Das freut den Koch genauso wie die gesamte Entwicklung an unserer Küste: „An der Ostsee tut sich einiges, zum Glück. Und warum? Weil es ein paar Leute gibt, die einfach mal machen.“
Die im Zweifel auch mal Ärger mit den Nachbarn oder der Polizei riskieren. Musik aus nach 22 Uhr? „Das ist doch nicht mehr zeitgemäß“, sagt Daniel Sourdeau vom Restaurant Hamptons, ein Ort so stilvoll, wie man sich ein Feriendomizil von Jacky Kennedy vorgestellt hätte. Nur öffentlich zugänglich. Daniel Sourdeau weiß um die Besonderheit seines Hauses und hat einiges vor. Der 36-Jährige träumt von einem mit Treibholz umkleideten DJ-Pult im Außenbereich:
„Die Lübecker Bucht ist nichts anderes als Ibiza. Nur in einem anderen Land.“ Eine Kooperation mit Til Schweigers Barefoot Hotel wird gerade genauso verhandelt wie ein Pop-up Store des Hamburger Spitzenrestaurants Nikkei Nine an der Ostsee. Manche Hamburger fahren sonntags extra ins Restaurant Hamptons, um hier eine Veggie-deluxe-Roll zu essen. Oder sich auf eines der Daybeds an den Strand zu legen (75 Euro am Tag) und dort Austern und eine Flasche Champagner zu konsumieren.
Mutige erschrecken immer erst nach der Tat
Ein blaues Cabrio fährt vor. Jens Friedländer steigt aus, und irgendwie denkt man plötzlich an den von Mario Adorf gespielten Baulöwen aus dem Fernseherfolg „Der große Bellheim.“ Friedländer gehört unter anderem das Hamptons, er hat hier an der Küste so viel bewegt, die komplette Aufzählung würde nur ermüden. Gemeinsam mit seiner Frau Birte stellt er im Winter beispielsweise eine Eisbahn in Scharbeutz auf, der Ort ist nun eine Ganzjahresdestination. „Dabei war hier im Winter früher alles tot“, sagt Friedländer. „Fehlten nur noch Strohballen, die wie im Western um die Häuser wehten.“
Friedländer ist ein lustiger Kerl, aber wenn er Verbotsschilder sieht, dann reagiert er allergisch. „Einfahrt freihalten“ etwa kommt ihm nicht vor sein Restaurant. „Erst wenn es Schilder gibt, auf denen ‚Einfahrt BITTE freihalten‘ steht, denke ich mal drüber nach.“ Na ja, ein Schild würde ohnehin nichts bringen, entgegnet sein Geschäftsführer Daniel Sourdeau, und die beiden lachen. Ihr Mut, etwas komplett Neues, Anspruchsvolles, Teures zu wagen, hat sich ausgezahlt. Die Leute kommen, genauso wie in das Hotel von Andrea Iskra.
Einmal nur blieb Iskras Herz kurz stehen, als ihre Kollegin Rabea Bruns sie fragte, was sie eigentlich gemacht hätte, wenn ihr teurer Neubau leer geblieben wäre? Aber dass die Gäste ausbleiben könnten, darüber hatte Iskra nie nachgedacht: „Die Mutigen erschrecken erst nach der Tat!“