Hamburg. Die Zahl der Tiere ist stark angestiegen, erste Angriffe auf Menschen sorgen für Unruhe – vor allem am Rand von Hamburg.
Das war eine ganz heiße Sache“: Wolfgang Reiche (68), seit vielen Jahren Jagdpächter in Hamburg, hat schon eine Menge erlebt. Aber das, was sich vor gut einer Woche in Duvenstedt ereignet hat, möchte er nicht noch einmal erleben. Eine hungrige Wildschweinrotte mit etwa 20 Tieren zog durch den Mesterbrooksweg und den Kakenhaner Weg, wühlte in den Vorgärten herum und ängstigte die Anwohner. Reiche wurde gerufen, und binnen drei Stunden erlegte er neun Tiere. Die anderen verschwanden. Schüsse mitten zwischen Wohnhäusern? „Natürlich ist das gefährlich, da muss man hoch konzentriert sein“, sagt der Jagdpächter. Er hat eine Genehmigung für solche Einsätze. Dank seiner Erfahrung ist alles gut gegangen. Und natürlich kann man seinen Wunsch verstehen, dass das ein Einzelfall bleiben möge.
Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es wieder passiert. Denn die Zahl der Wildschweine steigt und steigt. Genaue Zahlen gibt es nicht, Wildschwein-Volkszählungen sind nahezu unmöglich. „Aber die jährlichen Abschusszahlen, die wir Strecken nennen, geben uns einen Hinweis auf die Entwicklung“, sagt Marcus Börner, Sprecher des Landesjagdverbandes Schleswig-Holstein. Und da geht der langfristige Trend deutlich nach oben, in den vergangenen zehn Jahren ist die Kurve noch einmal deutlich steiler geworden.
Immer mehr als 10.000 Tiere erlegt
Während von den 60er- bis Anfang der 80er-Jahre kaum mehr als 1500 bis 1900 Tiere pro Saison erlegt wurden, waren es 1990 schon 4870 Wildschweine. Von 2007 an gingen die Zahlen dann richtig durch die Decke. Bis auf zwei Ausnahmen wurden immer mehr als 10.000 Tiere erlegt. Der Höchstwert wurde 2010 erreicht (16.092), im vergangenen Jahr lag man nur knapp darunter (15.694).
Forscher der Universität Kiel hatten schon 2014 festgestellt, dass sich die Tiere in Schleswig-Holstein immer weiter ausbreiten – vornehmlich in Richtung Norden. Sie warnten vor einem weiteren Anstieg der Population. „Bei einer Reproduktionsleistung von maximal 300 Prozent können die Bestände bei geringer Bejagung, günstigen klimatischen Bedingungen und guter Nahrungsverfügbarkeit exponentiell ansteigen“, heißt es im Bericht des Uni-Wildkatasters.
Maisernte deckt den Tieren den Tisch
Genau diese wildschweinischen Wohlfühlfaktoren werden offenbar jedes Jahr erfüllt. „Die Winter werden milder“, sagt Marcus Börner vom Landesjagdverband, „die Sterblichkeitsrate bei Jungtieren ist gering.“ Das Fressangebot sei optimal. „Früher hatten wir nur jedes sechste oder siebte Jahr ein sogenanntes Mastjahr, also eines mit einem guten Nahrungsmittelangebot für die Tiere. Heute ist das fast immer so, die Äcker sind ein einziges Eldorado.“ Der zunehmende Maisanbau mit seiner späten Ernte decke den Wildschweinen nun sogar auch im Herbst noch einmal lecker den Tisch.
Auf der Gegenseite ist eine ähnliche Entwicklung zu verfolgen. Die Lebensbedingungen stimmen auch bei uns Menschen. 2013 hatte die Metropolregion Hamburg 5.195.136 Einwohner, zwei Jahre später waren es schon 100.000 mehr. Kein Wunder also, dass das Zusammenleben von Mensch und Wildschwein konfliktreicher wird. Vielleicht kann man es auch so sehen: Wenn unsere Behausungen immer näher an die Wälder rücken, in denen die Wildschweine zu Hause sind, warum sollten die Wildschweine dann nicht auch in die Vororte einrücken? Wohnen im Grünen finden wir toll, Wühlen im Kompost finden die Wildschweine toll.
Eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht. Die natürlichen Feinde der Tiere sind hierzulande ausgestorben. Es gibt weder Braunbären noch Tiger. Wölfe, die ebenfalls als Wildschweinjäger infrage kämen, sind (noch) nur in sehr geringer Zahl unterwegs. Also bleiben die Jäger übrig.
Und die haben so ihre Schwierigkeiten mit dem Tier. Denn es ist nicht nur wild, sondern auch ziemlich schlau. Wildschweine leben im Wald, „gern auch in unseren schönen Naturschutzgebieten“, sagt Marcus Börner, und ruhten tagsüber. „Man kann sie deshalb nur nachts bejagen“, sagt Jagdpächter Wolfgang Reiche, „und nachts kann man sie, weil es sonst zu dunkel für einen platzierten Schuss ist, nur in Vollmondphasen jagen, und dann auch nur, wenn das Wetter mitspielt, also der Himmel nicht bedeckt ist.“ Das lässt die Zahl möglicher Jagdnächte ziemlich schrumpfen. Zudem wird das „Anludern“, also das Anlocken der Tiere mit Futter, schwierig, wenn sich die Wildschweine in der Natur überreich bedienen können. Bei vollem Magen versagt jedes Lockmittel.
Viele Jäger ehrenamtlich tätig
Die Alternative sind große Drückjagden. Treiber scheuchen die Rotte bei Tageslicht aus dem Unterholz, im Idealfall laufen die Tiere direkt vor die Gewehre der Jäger. Da die meisten Jäger und alle Treiber ehrenamtlich tätig sind, lässt sich eine solche Jagd allerdings nicht allzu oft organisieren. Jens Glißmann, Jäger und Landwirt in Sülldorf, kann von alldem ein Lied singen. Als Landwirt hat er es aufgegeben, seine Äcker mit Mais zu bestellen. „Der Wildschweindruck ist einfach zu hoch“, sagt er. Die aus dem Klövensteen kommenden Tiere fressen nicht nur den Mais. Sie wühlen auch den Boden derart auf, dass die Maschinen auf dem unebenen Grund die Kolben nicht mehr ernten können.
Als Jäger kämpft er weiter. Zuletzt hätten sich die Tiere am Rand von Rissen aufgehalten, sagt Glißmann. Am vergangenen Montag haben die Jäger deshalb erstmals zu einer Treibjagd gemeinsam mit dem Klövensteen-Revierförster Nils Fischer geblasen. Das Ergebnis war niederschmetternd. „Wir haben nicht ein Wildschwein erlegt“, sagt Glißmann. „Am Tag vorher waren sie noch da, aber dann waren sie weg.“ Die Jagd am Stadtrand ist mühsam. „Am Montag war schönes Wetter, da waren natürlich Spaziergänger unterwegs, das erschwert die Arbeit“, sagt Glißmann.
Es bleibt nur die Aufrüstung
Bleibt wohl nur die Aufrüstung, um die Wildschweinpopulation in den Griff zu bekommen. In Schleswig-Holstein denkt man schon über den Einsatz bisher verbotener Waffen nach. Das Landesumweltministerium hat die Jäger nicht nur aufgefordert, die Wildschweine verstärkt unter Beschuss zu nehmen. Die Behörde prüft außerdem, ob bei der Jagd Nachtzielgeräte benutzt werden dürfen. Das sind Geräte, die aufs Gewehr geschraubt werden und es mittels Infrarot oder eines Restlichtverstärkers möglich machen, die Tiere auch bei dunkler Nacht „anzusprechen“, wie der Jäger sagt – also einen Schuss auf sie abzugeben. „Das würde uns sehr helfen“, sagt Jens Glißmann.
Für die Wildschweine wäre das natürlich eine schlechte Nachricht. In Europa waren sie ja schon einmal nahezu ausgerottet. Die Ausdehnung der Landwirtschaft und die intensive Bejagung – Wildschwein wurde bei Hof gern gegessen – hatten dazu geführt, dass im 19. Jahrhundert weite Teile Deutschlands wildschweinfrei waren. Bis 1939 hat es in Schleswig-Holstein beispielsweise nur im Kreis Herzogtum Lauenburg Standwild gegeben.
Rotte vergnügt sich im Kurpark
Aber die vergangenen 20 Jahre waren Boomjahre – im ganzen Norden. Auf der Insel Usedom tauchen die Tiere schon am Strand auf, aus Polen haben sie „rübergemacht“, dort stehen sie unter Schutz, und Berlin gilt auch als Hauptstadt der Wildschweine. In Walsrode erlegt ein Jäger ein Islandpony, das er versehentlich für ein Schwein hält. In Bad Schwartau (Kreis Ostholstein) vergnügt sich eine Rotte im Kurpark. Angst und Schrecken verbreiteten die Tiere jüngst auch in Heide, wo zwei Exemplare durch die Innenstadt liefen, in Geschäfte eindrangen und Passanten angriffen. Vier Menschen wurden verletzt, einem Mann biss eines der Wildschweine die Fingerkuppe ab. Am Ende wurde auch hier ein Tier erschossen, das zweite flüchtete.
Nichts spricht dafür, dass sich an dieser Lage in den kommenden Jahren etwas ändern wird. Wir Menschen machen derweil das, was wir können: Wir machen aus der Plage ein Geschäft. Im Internet gibt es massenhaft Wildschweingerichte. Das Fleisch dazu liefert beispielsweise die Firma Revierwild. Sie hat ihren Sitz in Schnakenbek. Keule, Rücken oder Gulasch kommen aus eigenen Revieren im Kreis Herzogtum Lauenburg. Waidmannsheil!