Japan hält die Ruinen von Fukushima für sicher, erster Schrott ist zur Seite geräumt. Dabei ist eine Bergungstechnik noch nicht einmal entwickelt.
Fukushima/Hamburg. Die Reaktorruinen in Fukushima sind nach Angaben des Betreibers Tepco unter Kontrolle, erster Schrott ist zur Seite geräumt. Doch jetzt stehen Tepco und die japanischen Behörden vor der nächsten Herausforderung: Die Gamma-Strahlung der beschädigten Reaktorkerne ist so hoch, das man selbst in 100 Jahren nur ferngesteuert an sie herankommt. Dennoch soll das nukleare Brennmaterial aus den vier havarierten Blöcken entfernt werden. Die japanische Atomenergie-Kommission JAEC rechnet damit, dass es mindestens 30 Jahre dauern und wenigstens 15 Milliarden US-Dollar (11,2 Milliarden Euro) kosten wird, die strahlenden Ruinen unschädlich zu machen.
Zunächst herrscht ein riesiger Forschungsbedarf. Denn die Situation in Fukushima ist ohne Beispiel. Es gab zwar schon einmal im Kernkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg (USA) eine teilweise Kernschmelze, im März 1979. Aber dort beschränkte sich die Havarie auf den Reaktordruckbehälter (RDB), in dem die Brennelemente stecken und die Kettenreaktion abläuft. Die umgebenden Strukturen waren intakt geblieben. Ganz anders in Fukushima: Wasserstoffexplosionen zerrissen die Gebäudehüllen, Erdbeben und Tsunami setzten den Konstruktionen zu. Der Zustand und das Innenleben des Sicherheitsbehälters, der den RDB umschließt, ist bei drei Blöcken in Fukushima weitgehend unklar.
"In den Blöcken eins bis drei gab es eine erhebliche Wasserstoffentwicklung, weil größere Mengen Metall mit dem Wasser im Druckbehälter reagiert haben", sagt Gerhard Schmidt, Kerntechnik-Experte beim Öko-Institut in Darmstadt. "Das heißt: Die Metallhüllen der Brennstäbe sind geschmolzen, der als Pellets verpackte Brennstoff ist zum Teil frei geworden und hat sich am Boden des RDB angesammelt. Welche Anteile des Brennstoffs dies betrifft, ist derzeit nur in Computersimulationen zu erfassen."
Es sei sehr wahrscheinlich, dass in allen drei Reaktorkernen ein Teil des Gemisches aus geschmolzenem Hüllmaterial und Brennstoff sich durch den Boden des Druckbehälters hindurch in den Sicherheitsbehälter geschmolzen habe, sagt Sven Dokter, Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln. "Für Block 1 gilt ziemlich sicher, dass ein großer Teil, wenn nicht sogar der gesamte Kernbrennstoff den Druckbehälter verlassen hat." Die Masse aus Uranoxid-Tabletten sowie geschmolzenem und wieder erhärtetem Metall liegt - wohl einige Meter dick - am Boden des Sicherheitsbehälters. Dokter: "Tepco hatte kürzlich mitgeteilt, dass sich das Material bis zu 60 Zentimeter tief in den Beton hineingefressen haben könnte."
Das Aufräumen inklusive Bergung der lädierten Brennstäbe dauerte in Harrisburg 14 Jahre. Doch dort war nur das Reaktorinnere zum Krisengebiet geworden - in Fukushima ist es die gesamte Kraftwerksanlage. Sämtliche Arbeiten an den Sicherheitsbehältern werde man nur ferngelenkt verrichten können, sagt Dokter: "Die Gamma-Strahlung ist dort so hoch, dass man selbst in 50 oder 100 Jahren nicht an die Reaktorkerne herankommen wird."
Um überhaupt an den Sicherheitsbehältern arbeiten zu können, sollen sie geflutet werden. Dokter: "Wasser schirmt Gammastrahlen sehr gut ab. Deshalb können Sie im Normalbetrieb am Rande eines Abklingbeckens stehen - die abgebrannten Brennelemente sind mehrere Meter mit Wasser bedeckt." Doch auch bei diesen Manövern lauern in Fukushima Probleme. Denn die Sicherheitsbehälter sind nicht dafür gebaut, mit Wasser befüllt zu werden. Zudem haben sie einige Leckagen - und womöglich weitere, bislang unentdeckte Undichtigkeiten. Und niemand weiß, ob das in den ersten Wochen eingeleitete, salzhaltige Notkühlwasser zu Korrosion geführt hat. Deshalb müssen ferngesteuerte Instrumente erst einmal die Schäden an den Behältern erfassen und reparieren. Dokter: "Dafür, sowie für alle weiteren anfallenden Arbeiten, gibt es keine Technik von der Stange. Sie muss erst noch entwickelt werden."
Gleichzeitig gilt es, die verstrahlten Gebäude zu säubern. "In den Kellern steht stark kontaminiertes Kühlwasser", sagt Schmidt. "Und die oberen Gebäudeteile wurden verstrahlt, als man in der akuten Phase die Ventile der Reaktoren öffnete, um den Druck in den Behältern zu reduzieren." Niemand könne heute sagen, in wie viel Jahren der erste Deckel eines Reaktordruckbehälters geöffnet werden kann, um genauer zu schauen, in welchem Zustand die Brennstäbe sind, betonen beide Experten. Der japanische Umweltminister Goshi Hosono hat Tepco vorgegeben, spätestens in zehn Jahren damit zu beginnen, den Brennstoff zu bergen.
Es ist nicht zu erwarten, dass sich die zerschmolzenen Brennstäbe - insgesamt 1496 Stück - wie im Normalbetrieb einfach aus den Druckbehältern herausziehen lassen. Vielmehr wird eine noch nicht entwickelte Technik gebraucht werden. Zum Schutz der Umgebung soll das gesamte Gebäude eine stabile Hülle bekommen. Dokter: "Hier können die Techniker möglicherweise etwas von Tschernobyl lernen, dort wird gerade eine solche Halle über dem Betonsarkophag errichtet."
Bereits in zwei Jahren soll damit begonnen werden, die 3108 Brennstäbe aus den Abklingbecken aller vier Kraftwerksblöcke zu entfernen. Auch diese Arbeiten seien "nicht trivial", sagt GRS-Sprecher Dokter. Er hält die Entleerung des Beckens von Block 4 für vordringlich: "Dort lagern wegen der Revision, die zum Zeitpunkt des Unfalls im März gerade lief, sämtliche Brennelemente des Reaktors. Sie liegen dort jetzt zehn Monate - in einem deutschen Kernkraftwerk vergehen vier bis fünf Jahre, bis die Aktivität so weit gesunken ist, dass die abgebrannten Elemente in Castoren geladen werden können."
Die Brennelemente lägen im Block 4 unter freiem Himmel, so Dokter, zudem seien Streben unterhalb des Beckens montiert worden, um es zu stabilisieren und gegen potenzielle Beben zu sichern - schließlich stehen die Reaktorruinen in einem Erdbebengebiet. Dokter spricht von "Glück", dass alle vier Lagerbecken, die sich jeweils in den oberen Etagen der Kraftwerksgebäude befinden, bei dem Beben und den Explosionen im März dicht gehalten haben - "sonst hätte man keine Chance gehabt, irgendetwas zu retten".
Doch selbst ohne dieses Schreckensszenario bleibt die Aufgabe, die Blöcke eins bis vier unschädlich zu machen, gigantisch. Gerhard Schmidt vom Öko-Institut rechnet damit, dass irgendwann die Ruinen komplett abgetragen sein werden: "Das Ziel lautet, die Radioaktivität aus den Anlagen zu entfernen. Wahrscheinlich ist sie gerade in den Kellerräumen über das kontaminierte Löschwasser tief in den Beton eingedrungen. Dann wird nichts anderes übrig bleiben, als den Beton zu beseitigen." Die verstrahlten Gebäudereste nicht zu bergen, sondern sie wie in Tschernobyl mit einem Betonsarkophag zu bedecken, hält er nicht einmal für eine Zwischenlösung: "Das sind Millionengräber ohne Sinn und Verstand."