Die Explosionen wären verheerender gewesen als bei den Anschlägen von London und Madrid. Islamistische Bedrohung kann aus Mitte der Gesellschaft kommen.
Oberschledorn ist ein beschaulicher Ort im Hochsauerlandkreis. 773 Jahre alt. Nur 900 Einwohner. Wenn etwas los ist, dann wohl bei der Freiwilligen Feuerwehr, beim Spielmannszug Blau-Weiß oder der katholischen Frauengemeinschaft. Normalerweise schließt man dort nicht einmal die Autos ab, so friedlich ist es. Doch am 4. September 2007 bricht über Oberschledorn ein Ausnahmezustand herein, den die Einwohner so schnell nicht vergessen werden. Dort kommt es zum Finale einer der größten deutschen Polizeiaktionen. Um 14.30 Uhr stürmen Sondereinheiten der Polizei den Ort. 30 bis 40 Autos - ohne Blaulicht und Sirenen - blockieren in Minutenschnelle die Straßen, bewaffnete Polizisten umstellen ein unscheinbares Einfamilienhaus und brechen dann ein. Zwei Männer nehmen sie sofort fest, ein Dritter flüchtet durch das Badezimmer. Ein Polizist setzt nach, bringt ihn zu Fall, es kommt zu einer Rauferei, der Verfolgte entreißt dem Polizisten die Waffe und schießt. In letzter Sekunde kann der Beamte die Waffe wegdrücken. Dann wird auch der Verdächtige Daniel Schneider überwältigt. Die Gefahr ist gebannt.
Wie groß sie war, erfährt die Öffentlichkeit erst später. Der Islamist Daniel Schneider (23) und seine beiden Komplizen Fritz Gelowicz (29) und Adem Yilmaz (30) hatten monatelang an Sprengsätzen gebastelt, die Deutschland mit einer nie da gewesenen Terrorwelle überzogen hätten. Sie wollten mit ihren Bomben Marke Eigenbau ausdrücklich so viele Menschen töten wie nur möglich. Laut Bundesanwaltschaft planten sie, aus Wasserstoffperoxid - eigentlich benutzt man es zum Bleichen von Haaren - Sprengsätze zu bauen, die sie als Autobomben zur Explosion bringen wollten. Die Menge von zwölf 65-Kilogramm-Fässern, die die Terrorverdächtigen in einer Chemikalienhandlung in der Nähe von Hannover nach und nach gekauft hatten, hätte eine Sprengkraft von 410 Kilogramm TNT ergeben, beim Terroranschlag auf die Londoner U-Bahn 2005 mit fast 60 Toten explodierten "nur" neun Kilogramm TNT. Als Ziele hatten sie sich vor allem von Amerikanern besuchte Pubs, Diskotheken und Flughäfen in Frankfurt, Ramstein, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Stuttgart und München ausgeguckt. Die Anschläge sollten - typisch für Al-Qaida-Planungen - im Vorfeld der Bundestags-Entscheidung über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan am 12. Oktober 2007 stattfinden.
Morgen beginnt in Düsseldorf nun der Prozess gegen die drei Terrorverdächtigen und ihren später verhafteten Komplizen Attila Selek (24). Der Ort der Verhaftung hat ihnen den Namen Sauerland-Gruppe zugewiesen. Seit den RAF-Prozessen hat es keinen derart großen Terrorprozess mehr in Deutschland gegeben. Er findet im wohl sichersten Gerichtsgebäude Deutschlands statt und kann sich bis zu zwei Jahre hinziehen. Die Angeklagten sitzen hinter Panzerglas und können nur durch Luftlöcher mit ihren Anwälten sprechen. Mehr als 500 Aktenordner füllen die Prozessunterlagen, allein die Anklage hat 219 Zeugen benannt. Vertreter der Bundesanwaltschaft sind bis Usbekistan und Kasachstan gereist, um Zeugen zu befragen. Dort wo die Islamische Dschihad Union (IJU), zu der die Terrorverdächtigen der Sauerland-Gruppe gehören sollen, ihre Fäden ziehen soll. Die Verteidigung wird anzweifeln, dass es diese Gruppe überhaupt gibt, die Bundesanwaltschaft will ihre Existenz beweisen. Denn die vier Verdächtigen sind nicht nur der Mitgliedschaft einer inländischen, sondern auch einer ausländischen Terrorvereinigung angeklagt. Daniel Schneider muss sich zudem wegen versuchten Mordes an dem Polizisten verantworten. Ihm droht deswegen lebenslänglich, den anderen 15 und zehn Jahre Haft.
Die letzten eineinhalb Jahre haben die Männer getrennt voneinander in den Hochsicherheitsgefängnissen von Stammheim, Schwalmstadt und Weiterstadt verbracht. Es heißt, sie halten sich weiterhin streng an ihren muslimischen Gebetsrhythmus. Die vier Angeklagten haben schon bis heute Deutschland schmerzlich vorgeführt, dass der islamistische Terror nicht irgendwo in der Welt passiert, sondern auch in Deutschland aus der Mitte der Gesellschaft kommen kann. Daniel Schneider und Fritz Gelowicz sind zwei zum Islam konvertierte Männer, die quasi aus dem Nichts zu radikalsten Muslimen wurden. Eine Reise in ein Terrorlager der IJU im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, wo sie einander und Adem Yilmaz kennenlernten, machte sie zu Feinden der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind. Sie kehrten zurück mit der Absicht, schwerste Anschläge zu begehen.
Ihre schwierige Kindheit als Scheidungskinder wird den Männern aus der Nähe von Saarbrücken und aus Ulm immer mal als Beweggrund für die Suche nach Halt ausgelegt. Aber warum daraus ein derartiger Hass auf ihre Mitmenschen erwachsen muss, bleibt eigentlich unfassbar. Adem Yilmaz und Attila Selek stammen aus der Türkei, gehören zu der Gruppe von 1,7 Millionen Türken, die zum allergrößten Teil friedlich hier leben. Lange haben Sicherheitskräfte die Türken in Deutschland für eine so gefestigte Gruppe gehalten, dass sie gegen muslimische Radikalisierungen gefeit schienen. Doch offenbar nicht Adem und Attila, auch nicht Adems Bruder Burhan (27), der ebenfalls im Fahrwasser der Sauerland-Zelle in einem eigenen Prozess angeklagt ist. Er sollte wohl Ausrüstungen wie ein Nachtsichtgerät und eine Kamera für die IJU in die Terrorlager ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet schleusen. Die Ausläufer der Sauerland-Zelle weben sich inzwischen durch Deutschland. Die vier jetzt in Düsseldorf angeklagten Männer gelten nur als die Spitze des Eisbergs. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählt inzwischen zwei Dutzend Verdächtige zu der Sauerland-Gruppe. Es ist ein weites Geflecht von Bekanntschaften und Weitervermittlungen, das sich bei näherem Hinsehen offenbart. Man kennt sich, hilft sich, vermittelt einander in Terrorlager. Das Ziel ist immer dasselbe: Anschläge.
Zu ihnen gehören auch Eric Breininger und Hussein al-Malla. Seit Herbst vergangenen Jahres wird öffentlich nach ihnen gefahndet, weil sie sich nach Erkenntnissen der Fahnder aus einem IJU-Terrorlager auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, um Anschläge zu begehen. Der Libanese al-Malla gilt als derjenige, der den jetzt angeklagten Daniel Schneider zum radikalen Muslim machte. Beide trafen sich in der Moschee im saarländischen Neunkirchen. Auch für Bekkay Harrach (31), einen Deutsch-Marokkaner aus Bonn, gibt es weite Berührungspunkte mit der Sauerland-Gruppe. Er scheint inzwischen Zugang zu den höchsten Zirkeln von al-Qaida zu haben und drohte Anfang des Jahres per Video den Deutschen erstmals direkt. "Unsere Atombombe ist die Autobombe", sagte er.
Alle Angeklagten im morgen beginnenden Prozess schweigen bisher. Noch ist nicht klar, wie weit sie sich äußern werden. Die stärkste Stütze der Anklage werden wohl deswegen auch die stundenlangen Abhörprotokolle sein. Die, auf denen zu hören ist, wie die Männer sich schon die Wirkung ihrer Anschläge ausmalen und sich auf das Gesicht von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble freuen, wenn er zu den Folgen Stellung nehmen muss. "Wenn der Schäuble vor die Presse tritt, ey, das wird supergeil", sagt einer von ihnen. Dokumentiert ist auch eine Unterhaltung über den Bombenbau: "Wie viel Gramm brauchst du denn, dass der voll zerfetzt?" - "Wenn du's mit Stahl einpackst, reicht dir zwanzig Gramm, dreißig Gramm. Dann ist er tot." - "Nee, tot muss nicht unbedingt sein, so crash würde genügen." - "Da reicht dir dreißig Gramm, bei fünfzig ist er auf jeden Fall tot."
Dass sie observiert und abgehört wurden, war den Terrorverdächtigen dabei offenbar durchaus klar. Dass sie sich dennoch so sicher waren und einfach weiterplanten, bezeichnete Schäuble hinterher als Hinweis auf ihre hohe kriminelle Energie. Für BKA-Chef Jörg Ziercke war es Anlass, eine Online-Durchsuchung zur Terrorabwehr zu fordern, die inzwischen auch Gesetz ist. Was die Terrorverdächtigen jedoch nicht bemerkten, war, dass es den Fahndern gelang, das Wasserstoffperoxid, das sie fässerweise zum Bombenbau gehortet hatten, auszutauschen. Als die Sondereinheiten in dem Einfamilienhaus in Oberschledorn, das Fritz Gelowicz am 31. August zum Bombenbauen angemietet hatte, am 4. September 2007 zuschlugen, bastelten die Angeklagten an bereits "entschärften" Bomben.
Hinter den Fahndern lagen zu dem Zeitpunkt sechs Monate lange Observationen. Ausgelöst durch einen Hinweis von den US-Geheimdiensten startete Ende 2006 die Operation "Alberich", an der bis zu 600 Ermittler beteiligt waren. Jeder Schritt, jedes Gespräche wurde überwacht. Unbemerkt von der Öffentlichkeit befand sich die Polizei im Sommer 2007 im Ausnahmezustand. Für einen Banküberfall, vielleicht auch noch mit Geiselnahme, hätte in ganz Hessen, Baden-Württemberg und dem Saarland kein Mobiles Einsatzkommando mehr zur Verfügung gestanden. Beteiligt waren an der Aktion nicht nur die deutschen Fahnder, sondern vermutlich auch verschiedene Geheimdienste, deren Rolle im Prozess sicherlich aufgearbeitet werden wird. Es gibt Berichte, wonach die CIA sogar in die Beschaffung der Bomben-Zünder verwickelt gewesen sein soll.
Je mehr Zeit jedoch im Sommer 2007 voranschritt, desto unruhiger wurden die Beamten. Zu groß war die Gefahr, dass ihre Aktion auffliegen und die Verdächtigen verschwinden würden. Fast wäre das auch passiert. Die Männer gerieten bei einer Tour in eine normale Verkehrskontrolle der Polizei, weil sie mit Fernlicht fuhren. Sie mussten Ausweise und Führerscheine zeigen und wurden jetzt zunehmend nervös. Um nichts mehr zu riskieren, schlugen die Fahnder schließlich zu.