Das größte Geberland will bis zum Jahresende in Karlsruhe Klage gegen den Finanzausgleich einreichen. Spitzenpolitiker von SPD, Grünen und Linken sowie der Nehmerländer warfen Bayern mangelnde Solidarität vor.
München/Berlin. Bayern setzt nach monatelangen Verhandlungen seine Drohung gegen klamme Bundesländer um: Bis Ende des Jahres will der Freistaat beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen den Länderfinanzausgleich einreichen und das jetzige System kippen, wie das schwarz-gelbe Kabinett am Dienstag in München beschloss. Dabei bleibt die Staatsregierung aber vorerst auf sich allein gestellt: Die beiden anderen großen Zahler – Hessen und Baden-Württemberg – setzen weiter auf Verhandlungen. Spitzenpolitiker von SPD, Grünen und Linken sowie der Nehmerländer warfen Bayern mangelnde Solidarität vor.
Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sprach von einer „Schieflage im System, wenn vier Länder geben und die zwölf anderen unabhängig vom Ausmaß ihrer Anstrengungen nehmen“. Der Freistaat sei sich ich seiner bundespolitischen Verantwortung bewusst. „Wir sind solidarisch, das Ausgleichssystem ist es nicht“, argumentierte der CSU-Vorsitzende. Bayern habe 2011 mehr in den Finanzausgleich bezahlt, als es in den vergangenen 40 Jahren erhalten habe. Das Prinzip müsse sein, „Hilfe zur Selbsthilfe, aber keine Dauersubvention“.
Bayern, Baden-Württemberg und Hessen hatten sich zunächst in Gesprächen mit den anderen Bundesländern um eine neue Regelung bemüht. Den Nehmerländern sei ein „faires, konstruktives Angebot“ unterbreitet worden, das sie leider nicht angenommen hätten, sagte Seehofer. Der Freistaat suche nach wie vor den Schulterschluss mit Hessen und strebe eine gemeinsame Klage an.
Finanzausgleich „belohnt politisches Nichtstun“
Der bayerische Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP) kritisierte das derzeitige System als intransparent, ungerecht und leistungsfeindlich. Andere Länder leisteten sich mit dem Geld Dinge, die der Freistaat sich verkneife. Mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei frühestens 2014 zu rechnen.
Finanzminister Markus Söder (CSU) betonte: „Es geht hier nicht um Freibier für alle, sondern es geht um ein gerechtes Finanzsystem.“ Nach dem derzeitigen System schätzt er die Zahlungen Bayerns allein für die nächsten beiden Jahre auf zusammen 8,2 Milliarden Euro. Damit seien knapp zehn Prozent des gesamten Haushalts für den Finanzausgleich reserviert. In diesem Jahr liege der Beitrag bei knapp 3,7 Milliarden Euro. Damit zahle Bayern mehr als die Hälfte der Gesamtsumme.
Baden-Württemberg hält sich laut Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) eine Klage zwar offen, will aber zunächst die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde prüfen. Der Grünen-Politiker plädierte dafür, die Verhandlungen mit den Nehmerländern weiter voranzutreiben. Auch Hessen setzt vorerst auf weitere Gespräche. Vize-Ministerpräsident Jörg-Uwe Hahn (FDP) sagte der „Welt“, bisher sei ihm nicht bekannt, dass die Nehmerländer die Verhandlungen aufgekündigt hätten. Sollte dies der Fall sein, werde Hessen aber mit Bayern den Klageweg beschreiten.
Hamburg versicherte, seiner Verantwortung als Geberland auch künftig nachzukommen: „Wir stehen zum Länderfinanzausgleich“, sagte ein Sprecher des SPD-geführten Senats auf dapd-Anfrage. Der bayerischen Klage wolle sich der Stadtstaat nicht anschließen.
Kritik der Nehmerländer
Niedersachsens Finanzminister Hartmut Möllring (CDU) zeigte zwar Verständnis für die geplante Klage, räumt ihr allerdings keine großen Chancen ein. Aus mehreren anderen Nehmerländern schlägt der bayerischen Staatsregierung dagegen scharfe Kritik entgegen. Brandenburgs Finanzminister Helmuth Markov (Linke) warf Bayern Verantwortungslosigkeit vor: „Entsolidarisierung wird letztlich für arme wie reiche Länder sehr viel teurer.“
Der nordrhein-westfälische Finanzstaatssekretär Rüdiger Messal kritisierte die geplante Klage als Wahlkampfmanöver und warf dem Freistaat mangelnde Solidarität vor. Saarlands Finanzminister Stephan Toscani (CDU) rief Bayern zu einem Verzicht auf eine Klage auf. Nötig seien „faire Neuverhandlungen“, bei denen alle verbesserungsfähigen Aspekte eines Ausgleichssystems beachtet werden, „nicht nur diejenigen, die für Bayern vorteilhaft sind“.
„Absolut unseriös“
Noch schärfer fiel die Kritik von der Opposition im Bundestag aus. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, warf dem CSU-Chef „billigsten Populismus“ vor. Wenn Seehofer anderen die Solidarität wegnehmen wolle, von der Bayern fast 40 Jahre profitiert habe, sei dies unverschämt. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier polterte: „Horst Seehofers Attacke gegen die föderale Solidarität ist absolut unseriös.“ Das sei ein „durchsichtiges Manöver im bayerischen Vorwahlkampf“.
Als „Bruch mit einem Grundgedanken unserer Verfassung“ wertete Linke-Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn die geplante Klage. Vor allem die ostdeutschen Länder seien auf die Unterstützung durch den Finanzausgleich angewiesen, sonst drohe dort weiterer Sozialabbau. (dapd)
Reaktionen der deutschen Presse
Die Welt (Berlin): Ministerpräsident Horst Seehofer will nun beim Bundesverfassungsgericht eine gerechtere Neuregelung erzwingen. Bayern zieht allein nach Karlsruhe, die übrigen Geberländer Hessen, Hamburg und Baden-Württemberg scheuen den Schritt. Die einen zweifeln am Erfolg, die anderen wollen am Solidaritätsprinzip der Länder nicht rütteln. Aber ist es wirklich gerecht, wenn ein Bundesland dauerhaft die Hälfte der Republik alimentiert und man diesen Zustand für naturgegeben hält? Dass der CSU-Chef die Klage ein Jahr vor einer schicksalhaften Landtagswahl auf den Weg bringt, ist sicher kein Zufall. Aber es ist auch keine Schande. Warum sollen denn politische Schieflagen nicht auch und gerade in Wahlkampfzeiten verhandelt werden? Und schief ist es schon, wenn vier Geberländer auf Dauer zwölf Nehmern gegenüberstehen, die kaum Anstalten machen, sich aus ihrem Schuldensumpf zu befreien.
tz (München): Horst Seehofer hat Recht: Der Länderfinanzausgleich ist aus den Fugen geraten. Der Abstand zwischen den (nur noch vier) wohlhabenden Ländern und den zwölf armen Schluckern wird immer größer – und demgemäß auch die Summen, die der Freistaat in den Norden schieben muss. Angesichts von Skandalen wie dem sündteuren Berliner Flughafen-Desaster denken sich die Bayern zurecht, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Seehofers Klage ist zum einen natürlich: Wahlkampf. Aber zum anderen wird sie tatsächlich Druck auf eine Neuverhandlung des Finanzausgleichs ausüben. Im Ergebnis geht es dabei weniger um konkrete Summen, als darum, dass Verschwendung künftig stärker geahndet werden muss. Klar ist aber auch, dass das Grundgesetz-Gebot der 'Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse' über allem steht – schließlich will der Bayer, der beruflich bedingt nach Berlin oder Bremen umziehen muss, sich nicht plötzlich in Dritt-Welt-Verhältnissen wiederfinden. Und der Ehrlichkeit halber müssen auch verdeckte Finanzausgleichs-Ströme wie die Solarförderung mit in die Rechnung einbezogen werden. Denn davon profitieren in erster Linie wir Bayern...
Neue Presse“ (Hannover): Horst Seehofer steht unter Druck. Zum ersten Mal droht seinen Christsozialen bei der Landtagswahl im Herbst kommenden Jahres der Machtverlust im weiß-blauen Heimatland. Und deswegen bläst der bayerische Ministerpräsident zur Attacke: Seehofer droht der Kanzlerin, wettert gegen den Euro-Rettungsschirm und besteht stur auf der Einführung eines Betreuungsgelds. (...)Dass nun auch der Länderfinanzausgleich ins Schema Seehofers passt, ist nicht verwunderlich. Zu lange schon drohte die CSU, die finanz-solidarische Grundlage des Föderalismus infrage zu stellen. Dabei hat Bayern selbst vom Prinzip, den schwächeren Ländern zu helfen, bis 1988 profitiert. Der Finanzpakt gab die Mittel zu einer Strukturwandlung, aus der der Freistaat nachhaltigen Nutzen zog.
Weser-Kurier (Bremen): Die Bayern werden also klagen. Pah – und wenn schon. Man muss kein Politik- oder Finanzwissenschaftler sein, um Horst Seehofers Gemoppel gegen die Habenichtse einzuschätzen. Ein Blick auf den Kalender reicht: 2019 läuft die bisherige Vereinbarung aus. Aber schon 2013 wird in Bayern gewählt. Ja, die Bayern. Die machen nicht nur für Blasmusik dicke Backen. 'Mir san mir' – geschenkt. Denn zumindest in der CDU schmilzt das 'Mir' dahin. Der Schock von 2008, nämlich nach fast 50 Jahren die absolute Mehrheit zu verlieren, ist nicht verwunden. Damals hieß der Verlierer Günther Beckstein. Ratzfatz war seine Karriere beendet. Der aktuelle Kandidat heißt Seehofer. Ihm sind bekanntlich viele Mittel recht, um sich durchzusetzen und Wähler für sich zu gewinnen. Vor allem aufs Drohen versteht sich der CSU-Ministerpräsident. Er droht der Kanzlerin, er droht der CDU, dem Koalitionspartner droht er besonders gerne – und nun droht er den Nehmerländern. Der Zeitpunkt für Seehofers Vorstoß ist denkbar günstig, auch aus Bremer Sicht: Die Bayern haben mit den Hessen und den Baden-Württembergern schon 1998 gegen den Länderfinanzausgleich geklagt, aber weiter zahlen müssen. Inzwischen steht an der Spitze Baden-Württembergs aber ein Grüner, der es sich mit den vielen rot mit regierten Nehmerländern kaum verscherzen mag. Obendrein gibt es niemanden, der damit rechnet, dass der bisherige Finanzausgleich das Jahr 2019 überlebt. Schon gar nicht angesichts der Eurokrise. Aber die Krise ist es auch, die Seehofer zur Klage getrieben haben wird. Der bange Blick in die Zukunft, auf das eigene Konto und das sauer Ersparte – da schindet ein Landesvater Eindruck, wenn er zwar nichts gegen bayerische Alimente für die Griechen tun kann, aber etwas gegen bayerische Alimente für die armen Schlucker in der direkten Nachbarschaft. Horst Seehofer macht sich also bei den Bayern beliebt und bei den Bremern unbeliebt. Viel mehr wird auch nicht bleiben: Gestern wurde die Klage beschlossen. Bis sie eingereicht ist, wird Zeit vergehen. Bis verhandelt wird, wird viel Zeit vergehen. Bis das Ergebnis in Kraft treten könnte, wird noch viel mehr Zeit vergehen. Unwahrscheinlich, dass vor 2019 noch viel geschieht. Aber, Achtung: 2018 wird in Bayern wieder gewählt.