Migranten sollen sich nicht mehr zwischen zwei Nationalitäten entscheiden müssen, fordert die Hamburger SPD-Politikerin Aydan Özoguz.
Berlin. Im holzgetäfelten, langen Weltsaal des Auswärtigen Amtes in Berlin hat es schon viele denkwürdige Ereignisse gegeben. Die Kassenhalle der Reichsbank ist früher hier gewesen, später hat das Zentralkomitee der SED hier getagt. Nach der Wende beschloss die Volkskammer der DDR im selben Raum den Einigungsvertrag. Heute wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan über das edle Parkett schreiten. Vor allem um schöne Bilder soll es dieses Mal gehen, denn ein Festakt ist geplant zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Merkel und Erdogan werden mit Gastarbeitern der ersten Stunde zusammentreffen. Mit denen, die 1961 zum Arbeiten nach Deutschland gekommen und geblieben sind. Mehr als 2,5 Millionen türkischstämmige Menschen leben mittlerweile in der Bundesrepublik. Aus einem zeitlich begrenzten Abkommen ist dauerhafte Einwanderung geworden - und Integration zu einer Herausforderung, bei der oft nicht klar ist, ob es der Gesellschaft gelingt, sie zu meistern.
50 Jahre nach dem ersten Gastarbeiter wird deshalb nicht nur gefeiert, sondern auch gestritten. Das Bekenntnis zur Integration solle "nicht auf eine Feierstunde reduziert" werden, schimpfte etwa Grünen-Chefin Claudia Roth. Die Oppositionsparteien fordern die Bundesregierung pünktlich zum Jahrestag des Anwerbeabkommens erneut zur Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft auf. Die SPD wird nächste Woche einen Antrag in den Bundestag einbringen, um das Thema voranzubringen. "Die doppelte Staatsbürgerschaft ist ein wichtiges Signal bei der Integration von Migranten in Deutschland", sagte die Integrationsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Aydan Özoguz, dem Abendblatt. "Wir sollten die Leistung der Zuwanderer gebührend würdigen. Das geht nur über die volle Eingliederung in die deutsche Gesellschaft."
Kern der Debatte ist der sogenannte Optionszwang. Er wurde im Zuge der im Jahr 2000 unter Rot-Grün angestoßenen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts eingeführt - allerdings als Kompromissangebot und Zugeständnis an den damals schwarz-gelb dominierten Bundesrat. Der Optionszwang sieht vor, dass Kinder nicht deutscher Eltern mit ihrer Geburt in der Bundesrepublik neben der Staatsangehörigkeit der Eltern auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wenn sich ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält. Zwischen 18 und 23 Jahren müssen sie sich jedoch für einen Pass entscheiden - tun sie das nicht, geht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Eine Regelung, die die SPD nun abschaffen will. Man riskiere mit dem bisherigen Verfahren, "dass hier sozialisierte Menschen wegen des Optionszwanges mit der Volljährigkeit zu Ausländern werden", kritisierte Özoguz. "Lehnen wir die doppelte Staatsbürgerschaft ab, verpassen wir die Chance, dass sich hier sozialisierte Menschen als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen können. Das ist das falsche Signal", so die Hamburger Bundestagsabgeordnete mit türkischen Wurzeln und deutschem Pass, die beim SPD-Parteitag Anfang Dezember auch stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokraten werden soll. "50 Jahre waren lang genug, um über das Staatsbürgerrecht zu streiten."
+++ SPD-Chef Sigmar Gabriel dankt Deutsch-Türken +++
2010 mussten rund 3000 Migranten eine Staatsbürgerschaft wählen, bis zum Jahr 2018 wird die Zahl der Betroffenen nach Schätzungen der SPD auf etwa 40 000 drastisch steigen. Im vergangenen Jahr ließen sich insgesamt 101 570 Ausländer einbürgern. Die meisten von ihnen, 26 200, hatten zuvor die türkische Staatsangehörigkeit. Im Schnitt waren die Eingebürgerten türkischer Abstammung seit 20 Jahren in Deutschland.
Die schwarz-gelbe Koalition lehnt die doppelte Staatsbürgerschaft bislang ab. "Nach wie vor gibt es keine ausreichenden, verwertbaren Daten zur Anwendung des geltenden Gesetzes", so FDP-Innenexperte Hartfrid Wolff. "Es ist in der Tat absurd, in dem Land Ausländer zu sein, in dem man geboren ist und dauerhaft leben will." Doch nicht die Optionsmöglichkeit gehe an der Lebenswirklichkeit der betreffenden Menschen völlig vorbei, sondern die desintegrative Haltung von bestimmten Verbänden und Elterngruppen, die eine Art von Herkunftsnationalismus beschwören würden. "Die Tatsache, dass die Oppositionsparteien sich vor diesen reaktionären Karren spannen lassen, ist ein Armutszeugnis", so Wolff.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte am Wochenende, wer einen deutschen Pass wolle, müsse sich eindeutig zu Deutschland bekennen. Wer dagegen in Deutschland lebe und nicht die deutsche Staatsbürgerschaft annehme, müsse zwar für seine Entscheidung respektiert werden, aber "es gibt keinen Grund, in diesen Fällen den deutschen Pass mittels genereller Zulassung einer doppelten Staatsbürgerschaft aufzudrängen und hinterherzuschmeißen". SPD-Politikerin Özoguz sieht das anders. "Wer die doppelte Staatsbürgerschaft ablehnt, setzt vieles aufs Spiel. Wir brauchen Zuwanderung, wir brauchen Fachkräfte. Und wir gewinnen nichts dazu, wenn wir weiter auf Sturheit in dieser Debatte setzen."
Die SPD ist zuversichtlich, für ihren Gesetzentwurf eine Mehrheit zu bekommen, und will namentlich abstimmen lassen. "Mit diesem wichtigen Signal setzen wir auch auf die Verantwortung eines Staatsbürgers, sich um eine Ausbildung zu kümmern und Arbeit zu suchen", betonte Özoguz. "Die doppelte Staatsbürgerschaft ist nicht nur ein Recht, sie verpflichtet auch."
Gut möglich, dass sich auch die Bundeskanzlerin heute erneut mit diesem Thema auseinandersetzen muss. Nach dem Festakt zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens im Auswärtigen Amt ist ein Gespräch mit Erdogan im Kanzleramt geplant. Der türkische Ministerpräsident hat schon öfter die doppelte Staatsbürgerschaft für seine Landsleute in Deutschland gefordert.