SPD-Chef Sigmar Gabriel über schwarz-gelbe Entlastungspläne, Chancen des Euro-Krisengipfels und die Piratenpartei als Vorbild.
Hamburg. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hält die Regierung in der Schuldenkrise für orientierungslos, räumt aber auch Fehler seiner eigenen Partei ein. Die Sozialdemokraten seien der "Ideologie des Neoliberalismus" aufgesessen, sagt er im Interview mit dem Abendblatt.
Hamburger Abendblatt: Auf allen Kontinenten demonstrieren Menschen gegen die Macht der Finanzwirtschaft. In Hamburg haben Aktivisten vor der HSH Nordbank ihr Lager aufgeschlagen. Würden Sie am liebsten mitmachen, Herr Gabriel?
Sigmar Gabriel: Jedenfalls empfinde ich den gleichen Zorn und die gleiche Enttäuschung, die viele Menschen haben. Vor allem konservativ-liberale Regierungen haben die vielen klugen Vorschläge zur Regulierung der Finanzmärkte wieder in der Schublade verschwinden lassen, als die Krise 2008/2009 bewältigt schien. Auch die deutsche Bundesregierung von CDU/CSU und FDP wollte nicht mehr von dem wissen, was unter dem SPD-Finanzminister Peer Steinbrück erarbeitet worden war. Dass die Menschen jetzt dafür demonstrieren, dass wir den Finanzkapitalismus endlich bändigen, ist eine gute Entwicklung.
Die SPD hat bis vor zwei Jahren mitregiert. Welche Fehler haben Sie gemacht?
Gabriel: Auch wir sind vor allem in der Zeit rund um die Jahrtausendwende der herrschenden Ideologie des Neoliberalismus nicht immer entschieden genug entgegengetreten - etwa bei der Deregulierung der Finanzmärkte. Aber wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Andere leider nicht.
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Die Euro-Rettung geht in eine entscheidende Phase. Wie kann ein Befreiungsschlag gelingen?
Gabriel: Dinge, die Frau Merkel anderthalb Jahre verweigert hat, sollen nun ganz schnell kommen. Das kann nicht funktionieren. Die Regierungen wissen weder ein noch aus und wollen den Rettungsschirm mit Instrumenten des Finanzmarkts - Stichwort Kredithebel - ins Unermessliche ausweiten. Frau Merkel bereitet gerade den Einstieg in eine gigantische Schuldenunion vor, die sie angeblich immer verhindern wollte.
Was erwarten Sie vom EU-Gipfel am Sonntag?
Gabriel: Wir werden um eine gemeinschaftliche Haftung der Euro-Staaten für einander nicht herumkommen. Wer das nicht will, überlässt Europa den Spekulanten und wird auch in Deutschland einen wirtschaftlichen Niedergang mit hoher Arbeitslosigkeit ernten. Allerdings erfordert eine gemeinschaftliche Haftung für die Schulden von Euro-Staaten auch gemeinschaftliche Regeln für die nationalen Haushalte ...
... nämlich welche?
Gabriel: Es geht nicht nur um Einsparungen in einzelnen Ländern, sondern auch um das Unterbinden des Steuersenkungswettbewerbs. Irland ist uns ja von CDU/CSU und FDP jahrelang als Musterbeispiel für niedrige Steuern vorgehalten worden. Heute braucht es die Hilfe der deutschen Steuerzahler. Das ist ein Unding. Außerdem müssen wir endlich die Finanzmärkte an der Finanzierung der Schulden beteiligen, die viele Staaten - auch Deutschland - wegen ihnen machen mussten. Und natürlich müssen wir endlich den Geburtsfehler der Währungsunion beheben: das Fehlen einer abgestimmten Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik.
Was soll für Griechenland gelten?
Gabriel: Die SPD plädiert seit Langem für einen Schuldenerlass und eine echte Gläubigerbeteiligung. Frau Merkel und Herr Schäuble haben das immer für undenkbar erklärt - und fordern es nun selbst. Das Problem ist nur, dass die Lage an den Finanzmärkten heute viel instabiler ist als vor 18 Monaten. Jetzt stehen auf einmal Italien und Frankreich mit im Visier der Finanzspekulationen. Das Zaudern und Zögern wird uns jetzt sehr viel Geld kosten.
Und nun?
Gabriel: Wir brauchen für Griechenland und andere Schuldenstaaten außerdem dringend ein Investitionsprogramm. Was wir in Griechenland gerade ausprobieren, kommt den brüningschen Notverordnungen nahe. Und die Menschen reagieren genauso, wie sie damals in der Weimarer Republik reagiert haben: mit totalem Widerstand gegen den Staat. Griechenland braucht eine Perspektive für Wachstum und Beschäftigung. Und weil das nicht auf Pump geht, müssen wir schnellstens eine Finanztransaktionssteuer einführen.
Union und FDP treffen sich an diesem Freitag zu einem Koalitionsgipfel - und wollen die versprochene Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen auf den Weg bringen. Das müsste einem Sozialdemokraten eigentlich gefallen ...
Gabriel: Wer angesichts enormer finanzieller Risiken durch Euro-Rettung und schwächelndes Wirtschaftswachstum jetzt Steuersenkungen von sechs bis sieben Milliarden Euro verspricht, handelt unverantwortlich. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will sich offenbar die Zustimmung der FDP für seine gigantischen Euro-Rettungspakete kaufen. Die Bürgerinnen und Bürger werden diesen Kuhhandel zwischen Union und FDP durch höhere Kita-Beiträge, weniger Lehrer und Polizisten in den Ländern und Gemeinden bezahlen müssen. Von der versprochenen Entlastung wird nichts übrig bleiben.
Die SPD zieht mit einem reinen Steuererhöhungsprogramm in den Wahlkampf. Den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent zu erhöhen ist ein klares Signal an die Leistungsträger: Nicht SPD wählen!
Gabriel: Was heißt eigentlich Leistungsträger? Eine Krankenschwester, ein Handwerksgeselle und ein Polizeibeamter sind mindestens genauso Leistungsträger wie die Einkommenseliten. Im Übrigen hat sich eine Reihe von Millionären bereit erklärt, mehr Steuern zu zahlen. Leute wie der Hamburger Michael Otto sind für mich echte soziale Patrioten.
49 Prozent Spitzensteuersatz müssen beileibe nicht nur Millionäre zahlen.
Gabriel: Mit uns wird der Spitzensteuersatz ab einem Einzeleinkommen von 100.000 Euro erhoben - und nicht wie bisher ab 52.000 Euro. Wir halten 49 Prozent für einen angemessenen Beitrag der Gutverdiener. Im Übrigen: Unter dem CDU-Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl lag der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent.
Wird Merkel in einem Jahr noch Kanzlerin sein?
Gabriel: Die Kanzlerin kann sich darauf verlassen, dass in Union und FDP die Angst vor dem Verlust der Bundestagsmandate so groß ist, dass sie ihr blind folgen werden.
Dann macht es ja nichts, dass die SPD noch keinen Kanzlerkandidaten gefunden hat ...
Gabriel: Wenn es Neuwahlen gibt, rufen wir als Erstes das Hamburger Abendblatt an.
Der Hamburger Helmut Schmidt wirbt für Peer Steinbrück ...
Gabriel: Helmut Schmidt geht es sicher wie vielen Deutschen: Sie erinnern sich daran, dass SPD-Politiker wie Peer Steinbrück Deutschland besser durch die letzte Finanzkrise gesteuert haben, als es heute Angela Merkel tut. Auch Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz haben in der Großen Koalition ungeheuer viel für Deutschland geleistet. Und als SPD-Chef freut es mich, dass uns viele wieder in der Führung der Bundesregierung sehen wollen und deshalb darüber spekulieren, wer es denn am Ende machen wird. Entscheiden werden wir das aber erst Ende 2012/Anfang 2013.
Ist die Frage, mit wem Sie koalieren wollen, genauso offen?
Gabriel: Die SPD hat in der Bildungs-, der Sozial- und der Umweltpolitik die größten Überschneidungen mit den Grünen. Deshalb streben wir eine rot-grüne Koalition an. Aber es gibt natürlich auch Differenzen. Die SPD weiß, dass ein erfolgreiches Industrieland wie Deutschland eine moderne Infrastruktur braucht. Das ist bei den Grünen nicht immer so klar. Ich verstehe, wenn die Grünen sagen: Keine neue Autobahn durch ein Naturschutzgebiet. Aber wie kann man sich in einer Großstadt wie Berlin dagegen wehren, Menschen vor einer zu hohen Verkehrsbelastung zu schützen?
Es gibt ja noch die CDU.
Gabriel: Wir wollen keine Große Koalition. CDU und CSU demonstrieren ja Tag für Tag, dass sie nicht regierungsfähig sind.
Das Aufkommen der Piratenpartei hat Rot-Grün unwahrscheinlicher werden lassen. Könnte die SPD auch mit Grünen und Piraten regieren?
Gabriel: Ich halte von solchen Spekulationen gar nichts. Der Erfolg der Piraten ist ein Zeichen der Unzufriedenheit vieler Menschen mit den etablierten Parteien, zu denen leider auch SPD und Grüne gezählt werden.
Kann die SPD etwas von der Piratenpartei lernen?
Gabriel: Ja, bei den Themen Transparenz und Hierarchiefreiheit. Davon können sich andere Parteien eine Menge abschauen. Die SPD hat bereits einen großen Öffnungsprozess eingeleitet. Menschen, die nicht unser Parteibuch besitzen, werden die Möglichkeit bekommen, in der SPD mitzureden und auch mitzuentscheiden.