DGB-Chef Michael Sommer fordert im Abendblatt höhere Löhne nach der Krise und kündigt Massenproteste gegen die Bundesregierung an.
Hamburg. Michael Sommer ist aus dem Urlaub zurück. In seinem ersten großen Interview erklärt der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, warum er die Rente mit 67 für den falschen Weg hält - und spricht darüber, wie er sich sein Leben als Rentner vorstellt.
Hamburger Abendblatt:
Herr Sommer, Sie haben an dieser Stelle Gelegenheit, die SPD zu loben ...
Michael Sommer:
Wofür denn? Dass Thilo Sarrazin noch immer in der Partei ist?
Es müsste Ihnen gefallen, dass die SPD von der Rente mit 67 abrückt.
Ja, es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Gewerkschaften sind unverändert der Meinung, dass die Rente mit 67 der falsche Weg ist. Sie ist ein Rentenkürzungsprogramm und verschärft nur die Altersarmut. Es ist ein Skandal, dass die Unternehmen nicht ausreichend ältere Menschen beschäftigen. Positiv ist aber, dass die SPD eben genau diese Frage der Altersarmut und die Sicherung der gesetzlichen Rente viel stärker in den Blick nimmt. Mit dem Rentenkompromiss geht die SPD wieder mehr auf ihre Stammklientel zu.
Welche Partei setzt sich am meisten für die Arbeiter ein?
Die Parteienlandschaft hat sich gewandelt. Heute gibt es nicht mehr die eine Arbeiterpartei. In der Wirtschaftskrise hat sich die Union genauso wie die SPD darum bemüht, die Menschen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes zu schützen. Bei den Fragen von Würde und Arbeit, aber auch bei der Debatte um den Mindestlohn hat auch die Linkspartei die Interessen der Gewerkschaft aufgegriffen. Und auch die Grünen haben ihr Profil sozialpolitisch geschärft.
+++ EXKLUSIV-INTERVIEW mit DGB-Chef Sommer, Mai 2010 +++
Ist Ihnen die Linke mittlerweile näher als die SPD?
Das sicher nicht. Ich habe sowieso keine Nähe zu irgendeiner Partei, sondern zu den Arbeitnehmern.
Sie sind doch Mitglied der SPD.
Das ist meine persönliche Entscheidung. Aber als Gewerkschaft agieren wir parteipolitisch unabhängig. Und unser Erfolg ist, dass alle Parteien - sicherlich mit Abstufungen - die Arbeitnehmerschaft heute zur Mitte der Gesellschaft zählt und um sie wirbt.
Die Wirtschaft wächst so stark wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Wem gehört dieser Erfolg?
Die Gewerkschaften haben sicher mit einer klugen Krisen- und Tarifpolitik einen Beitrag dazu geleistet, dass die Menschen ihre Arbeit nicht verloren haben. Der Aufschwung ist aber ein Erfolg aller - sowohl der Gewerkschaften und Betriebsräte als auch der Unternehmen und der Parteien. Das hat mit der Großen Koalition begonnen, in deren Regierungszeit die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Staat, Arbeitnehmern und Unternehmen geschaffen wurde. Ob dieser Konsens auch nach der Krise hält, entscheidet nicht zuletzt auch die Debatte über die Leiharbeit.
Hätten die Gewerkschaften die rasant wachsende Leiharbeit nicht aufhalten können?
Wir konnten nicht verhindern, dass Unternehmen die Leiharbeit mittlerweile als zentrales Instrument der Lohndrückerei missbrauchen. Jetzt ist der wirtschaftliche Aufschwung da - und dennoch werden die Arbeitnehmer in Leiharbeit und prekäre Arbeitsverhältnissen gezwungen. Das werden wir nicht weiter zulassen. Wir brauchen einen Mindestlohn auch für Leiharbeiter. Und wir müssen den Grundsatz durchsetzen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Denn wir erleben Lohndrückerei auch bei den hoch qualifizierten Fachkräften.
Wie hoch soll der Mindestlohn in der Leiharbeit sein?
Das steht noch nicht fest. Die Gespräche mit den Ministerien sind abgeschlossen. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen ist da auf unserer Seite. Aus meiner Sicht unterstützt die Kanzlerin ebenfalls unsere Forderungen nach dem Mindestlohn in der Leiharbeit. Jetzt hängt es davon ab, wie beide sich bei Wirtschaftsminister Rainer Brüderle und der FDP durchsetzen können.
Löhne sind nicht nur bei der Leiharbeit ein Thema. Arbeitgeberpräsident Hundt fordert im jetzigen Aufschwung eine moderate Lohnpolitik.
In meinen 35 Jahren als Gewerkschafter wurde bisher jede Lohnforderung als Untergang des Abendlandes bezeichnet. Aber mal im Ernst: Es kann nicht sein, dass die Beschäftigten vielfach für die Krise bezahlen. Sie haben durch Kurzarbeit auf Lohn verzichtet, und die Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahren eine moderate Lohnpolitik gemacht. Aber im Aufschwung halten wir uns nicht mehr zurück. Jetzt sind unsere Leute mal wieder dran. Der Lohn ist nicht nur eine Last für Unternehmen, sondern auch ein positiver Faktor für die Volkswirtschaft.
Wir sind hinter China Vize-Exportweltmeister, müssen aber Fachkräfte importieren. Was macht dieses Land falsch?
Wenn heute junge Menschen nicht mehr Ingenieurswesen studieren, müssen wir uns fragen, ob das Schulsystem genügend naturwissenschaftliche Inhalte vermittelt und die Attraktivität der Ausbildung stimmt. Zudem muss die deutsche Wirtschaft die Voraussetzungen für die Beschäftigung der vielen jungen Menschen schaffen, die in Deutschland auf eine Ausbildung warten. Es ist ein Fehler mancher Unternehmen, nur auf ausländische Fachkräfte zu setzen.
Wirtschaftsminister Brüderle hat angeregt, Fachkräfte mit einem Begrüßungsgeld nach Deutschland zu locken.
In Deutschland leben 300 000 junge Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen. Wir schieben eine Bugwelle an Menschen vor uns her, die keine Ausbildung haben. 17 Prozent der 20- bis 29-Jährigen haben keine berufliche Qualifikation. Das ist ein großes Potenzial an Fachkräften. Die Unternehmen müssen diese 1,5 Millionen Menschen nur richtig ausbilden.
Verteidigungsminister zu Guttenberg plant die Aussetzung der Wehrpflicht. Eine gute Idee?
Ich sehe die Pläne mit großer Sorge. Nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen brauchen wir eine Armee, die in der Gesellschaft verankert ist. Deutschland darf sein Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und der Parlamentsarmee nicht aufgeben. Bei aller gerechtfertigten Debatte über die Wehrpflicht setze ich mich für die Wehrpflicht ein. Ich befürchte, dass mit den Plänen Guttenbergs das Konzept einer parlamentarisch kontrollierten Armee in einer Demokratie teilweise beseitigt wird. Und bisher hat niemand die Frage beantwortet, was mit den Notstandsgesetzen geschieht. Werden die auch abgeschafft? Aus meiner Sicht ist es mehr als fragwürdig, dass eine reine Berufsarmee für die Exekutierung der Notstandsgesetze zuständig sein soll. Darauf hätte ich gerne vom Bundesverteidigungsminister und von der Bundeskanzlerin eine Antwort.
Das Aussetzen der Wehrpflicht bedeutet auch ein Ende des Zivildienstes. Kommt das deutsche Sozialsystem ohne einen Pflichtdienst aus?
Die Gewerkschaften haben sich immer dagegen gewehrt, wenn der Zivildienst missbraucht wurde, um reguläre Arbeitsstellen zu ersetzen. Ich habe die Befürchtung, dass die sozialen Einrichtungen nach der Abschaffung des Zivildienstes dazu übergehen, massiv Ein-Euro-Jobs einzusetzen und sich quasi gezwungen fühlen, dass Hartz-IV-System zu missbrauchen.
Sie haben einen "heißen Herbst" gegen die Reformvorhaben der Regierung angekündigt. Wie sieht der Protest aus?
Der DGB und seine Gewerkschaften planen im gesamten Bundesgebiet Aktivitäten in den Betrieben und Verwaltungen und auf den Plätzen und Straßen. Bereits ab September geht es mit Demonstrationen und Veranstaltungen vor Ort los. Ende Oktober starten die drei zentralen Aktionswochen auch mit größeren Kundgebungen in Hannover, Stuttgart, Nürnberg und Kiel. Für uns ist dieses Land in der Schieflage: Klamme Kommunen, die Rente mit 67, Leiharbeit, Lohnsubvention durch Hartz IV oder auch die unsoziale Kopfpauschale machen deutlich, dass es nicht mehr gerecht zugeht. Wir werden unseren Unmut über diese falsche Politik mit allen legalen Mitteln der Einflussnahme hörbar zum Ausdruck bringen.
Apropos Schieflage: Noch rund sechs Millionen Mitglieder hat der DGB heute. Doppelt so viele waren es 1991. Haben die Gewerkschaften noch die Macht, die sie sich einst erkämpft haben?
Der Mitgliederschwund ist vor allem eine Folge der Massenarbeitslosigkeit. Dennoch sind wir noch immer eine wichtige gestaltende Kraft in Deutschland. Da machen Sie sich keine Sorgen.
Herr Sommer, Ihre jetzige Amtszeit soll die letzte sein. Reizt es Sie, danach in die Politik zu gehen?
Sicher nicht. Ich bin mit Leib und Seele Gewerkschafter. Das ist mein Leben. Und ich bin ein Gegner der Rente mit 67. Wenn die dritte Lebensphase eintritt, möchte ich nicht weiter arbeiten. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich sozial zu engagieren, vielleicht bei der Berliner Tafel, vielleicht auch im Ortsverein der SPD, in dem meine Frau Vorsitzende ist. Aber das entscheide ich dann, wenn es so weit ist.