SPD-Präsidium geht klar auf Distanz zur Rente mit 67. Die Parteiflügel scheinen ruhiggestellt. Neue Debatte auf dem Parteitag im September?
Berlin. Noch am Morgen der entscheidenden Präsidiumssitzung seiner Genossen war Franz Müntefering ein weiteres Mal in die Öffentlichkeit gegangen. Der frühere Parteivorsitzende, der als Arbeitsminister die Rente mit 67 erfunden hatte, warnte die SPD im "Focus" vor der Kursänderung, auf die sich sein Nachfolger Sigmar Gabriel mit dem Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier nach langem Hin und Her verständigt hatte. Er wolle zwar keine "Debatte nach außen" führen, aber: "Man sollte wie geplant 2012 mit dem Einstieg beginnen", schrieb "Münte" seinen Leuten ins Stammbuch. Einen Brief mit ähnlichem Inhalt hatte er bereits in der vergangenen Woche ins Willy-Brandt-Haus geschickt.
Doch vergebens. Das oberste Führungsgremium der Partei billigte die Kompromisslinie nach kurzer Debatte - und zwar einstimmig. Demnach soll die in der Großen Koalition von SPD und CDU beschlossene schrittweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit frühestens 2015 - und nicht bereits 2012 - beginnen. Als Bedingung will die SPD festschreiben, dass die Quote der 60 bis 64 Jahre alten sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer bis dahin mindestens 50 Prozent beträgt. Noch im vorigen Jahr war es allerdings nur jeder Vierte in dieser Altersgruppe. Müntefering sagte, er begrüße es ja, dass Steinmeier, Gabriel und andere an der Rente mit 67 grundsätzlich festhalten wollten. Doch die Verzögerung beim Einstieg erschwere dieses Ziel, sie sei "nicht sinnvoll".
Gut möglich, dass der Senior sich im kommenden Jahr, wenn die endgültige Regelung auf einem Parteitag beschlossen werden soll, noch ein weiteres Mal zu Wort meldet, um dann persönlich bei den Delegierten für seine Sicht auf die Dinge zu werben.
Doch der Kompromiss, das illustriert das einstimmige Votum des Präsidiums, wurde durchaus in enger Kooperation mit den verschieden Flügeln der Partei festgezurrt. Die Realos, die sich im rechten Seeheimer Kreis organisiert haben und deren Sprecher der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs ist, ziehen jedenfalls voll mit. "Wir müssen erst mal dafür sorgen, dass die Deutschen überhaupt länger arbeiten können, sonst bedeutet die Rente mit 67 nichts anderes als eine nackte Rentenkürzung", sagte er dem Hamburger Abendblatt. "Anders kann es doch gar nicht gehen." Kahrs signalisierte Verständnis für die Position Münteferings, der "Angst davor hat, dass die Rente mit 67 wegen der Verschiebung am Ende gar nicht kommt". Diese Sorge aber sei unbegründet, da weiterhin davon ausgegangen werden könne, dass die Systemumstellung wie geplant Ende 2029 voll in Kraft tritt.
Auch Gabriel beteuerte: "Es geht nicht darum, dass wir den Rentenbeschluss killen, sondern dass wir die Voraussetzungen schaffen." Wohlwissend, dass weite Teile der Parteibasis das Thema, das auch das Verhältnis zu den Gewerkschaften belastet, für die Wahlniederlagen der SPD verantwortlich machen. Exponierte Vertreter des linken Flügels wie Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hatten deshalb im Vorfeld des Präsidiumsbeschlusses sogar dafür gestritten, sich von der Rente mit 67 gleich ganz zu verabschieden. Im Präsidium tauchte er gestern nicht auf.
Auch an der Basis scheint weiter Diskussionsbedarf zu herrschen. Gabriel zufolge liegen bereits sieben Anträge zur Rente mit 67 für den Parteitag in diesem September vor - dabei sollte das Thema dort aus Harmoniegründen gar keine Rolle spielen. Die Antragskommission müsse jetzt entscheiden, wie damit verfahren werde, sagte Gabriel. Zufall oder nicht - deren Vorsitzender ist jedenfalls der Hamburger SPD-Landesvorsitzende und stellvertretende Bundesparteichef Olaf Scholz, der den Kompromiss in wesentlicher Funktion mit ausgetüftelt hatte.
Scharfe Kritik für ihren Rentenschwenk ernteten die Sozialdemokraten gestern aus den Reihen des ehemaligen Koalitionspartners, der den Einstieg in die Rente mit 67 im Jahre 2012 aus der Regierung heraus unverändert umsetzen will. So erklärte Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU), die SPD sei bei der Altersversorgung kein ernst zu nehmender Gesprächspartner mehr: "Die SPD verabschiedet sich von einer Phase, wo sie vorübergehend wirtschaftpolitische Vernunft angenommen hatte." CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt fand noch drastischere Worte: "Gabriel ist der Rententäuscher. Wider besseres Wissen will er vorgaukeln, dass es eine Alternative zur Rente mit 67 gäbe. Mit seinem dürren Formelkompromiss kann der SPD-Chef nicht vertuschen, dass die SPD vor der Zukunft kapituliert und von Politik aus Verantwortung nichts mehr wissen will." Sich inhaltlich mit der Linkspartei auseinanderzusetzen, das heiße für Gabriel wohl nur, deren Forderungen zu übernehmen.