Für die Kanzlerschaft hätte er kämpfen müssen. Bundespräsident Christian Wulff – an diese Formulierung wird man sich gewöhnen dürfen.
Hamburg/Berlin. Kanzler hätte er werden können. Doch Christian Wulff (51) sieht sich selbst nicht als Alphatier, als Anführer. Das hat er in einem Interview bekannt. Und wenn er das höchste Regierungsamt angestrebt hätte, hätte er parteiintern kämpfen müssen. Jetzt ist er im höchsten Staatsamt angekommen: Bundespräsident Christian Wulff – an diese Formulierung wird man sich gewöhnen dürfen.
Aber die Geduld ist ja auch Wulffs auffälligste Tugend. Als einer der wenigen deutschen Spitzenpolitiker hat er gleich drei Anläufe unternommen, bevor er in Niedersachsen zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Auch von zwei Niederlagen gegen den damaligen Amtsinhaber Gerhard Schröder ließ sich der CDU-Politiker nicht abschrecken.
Wohl deshalb reagierte er nach seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der schwarz-gelben Bundesregierung sehr gelassen, als sich die Öffentlichkeit mehr für seinen Konkurrenten Joachim Gauck als für den Niedersachsen begeisterte. Langweilig, konturlos, Profipolitiker – diese ihm zugeschriebenen Attribute wirken wie ein Gegenmodell zu dem ostdeutschen SED-Widerständler Joachim Gauck. Aber ein wichtiger Grund, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle ihn nominierten, ist, dass er weiß, wie Politik und politische Öffentlichkeit funktioniert – und wie man damit spielen kann.
Je näher der Wahltag rückte, desto deutlicher wurde dies. Denn plötzlich wirkte der Favorit konturenreicher. Es wurde bekannt, dass er seine schwerkranke Mutter gepflegt hatte, ohne bisher groß darüber zu reden. Pläne eines Kinderzimmers im Schloss Bellevue und eine Ehefrau mit Tattoo am Oberarm regen die Fantasien an, welches neue Image das Bundespräsidentenamt mit einer richtigen „first family“ erhalten könnte.
In der „Bild am Sonntag“ regte Wulff dazu noch eine Denkfabrik nach Vorbild des Preußen-Königs Friedrich des Großen an. Das sichert Schlagzeilen, klingt aber so kühn, dass der vorsichtige Wulff sich sofort wieder mit einem Mantel von Bescheidenheit umgibt: „Das Staatsoberhaupt wird ja nicht durch die Wahl zum Universalgenie, sondern ist auf den Rat von klugen Leuten angewiesen.“
Wes geht nun um die Neuentdeckung eines Provinzpolitikers, der den Berliner Medientross bisher eher gegen sich aufgebracht hat. Denn Wulff wollte Politik nicht nach den Spielregeln der Medienleitwölfe spielen – etwa als er sich als möglichen Herausforderer Merkels aus dem Rennen nahm. Mitte 2008 hatte er sogar betont: „Kanzler traue ich mir nicht zu“. Das sagt man nicht – oder eben doch.
Denn der in zweiter Ehe verheiratete Vater von zwei Kindern agiert zwar tatsächlich politisch vorsichtig und vermittelnd – hat aber oft Steherqualitäten gezeigt und durchaus Akzente gesetzt. Vielleicht auch, weil er als erster katholischer Ministerpräsident in dem protestantisch dominierten Niedersachsen Sensibilität für Minderheiten mit preußischem Pflichtgefühl verknüpft.
+++ Die jüngste First Lady – und die modernste Frau in Schloss Bellevue +++
So berief Wulff im April erstmals eine Muslimin und eine ostdeutsche Ministerin in ein westdeutsches Landeskabinett. Beharrlich arbeitete der bisherige CDU-Vize an seinem Image als liberaler Moderator quer über gesellschaftliche Grenzen hinweg. Mit diesem ausgleichenden Politikstil hatte er sich 2008 seine klare Wiederwahl als Ministerpräsident in Niedersachsen gesichert.
Politisch unterstützt er den von CDU-Chefin Merkel verfolgten Modernisierungskurs der Union – und schnitt dabei bei den zeitgleichen Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen wesentlich besser ab als sein Parteifreund Roland Koch. Wulff gehört zu einem der wenigen verbliebenen Politiker der CDU, die noch ein Wahlergebnis von mehr als 40 Prozent vorweisen können.
In Turbulenzen geriet Wulff Anfang dieses Jahres, weil er für Flüge in den Weihnachtsurlaub mit der Familie ein kostenloses Upgrade in die Business-Klasse angenommen hatte. Der Regierungschef räumte einen Verstoß gegen das Ministergesetz ein und zahlte umgehend nach.
Ungewöhnlich für den an Amt und Macht klebenden deutschen Politikertypus ist auch, dass der in Osnabrück geborene Jurist Wulff bereits frühzeitig seine reibungslose Nachfolge in Niedersachsen geregelt hatte – lange bevor der Ruf ins Bellevue kam. So übergab Wulff 2008 sein Amt als CDU-Landesvorsitzender an den jungen Fraktionschef David McAllister, der nun auch sein Nachfolger als Ministerpräsident und Führer der schwarz-gelben Koalition werden soll. Als Motiv hierfür wurde bei dem bisherigen VW-Aufsichtsrat allerdings eher ein anstehender Wechsel in die Wirtschaft gehandelt.
Ob das Verhältnis zwischen den Bewohnern von Schloss Bellevue und dem Kanzleramt unter einem Bundespräsidenten Wulff besser würde, ist nicht ausgemacht. Wulff betont zwar immer wieder, dass er Merkel deren Büroleiterin Beate Baumann vermittelte – es gibt also eine Niedersachsen-Connection, die in Berlin weite Kreise umfasst. Aber gleichzeitig galt Wulff selbst nie als absolut loyaler „Merkel-Mann“. So gehörte er zum sogenannten Anden-Pakt, einem Freundeskreis unter Unions-Männern, der sich nach dem Rückzug von Koch nun aber ohnehin auflöst.
Und Wulffs Ankündigung, eine „Denkfabrik für Deutschland„ organisieren zu wollen, kann man durchaus auch als Ankündigung auffassen, sich vom Schloss Bellevue stärker in die Politik und gesellschaftliche Debatten einmischen zu wollen.