Vizepräsident des Bundestags will Grass nicht als SPD-Wahlkampfhelfer ausschließen. Schriftsteller äußert sich nicht zum Einreiseverbot.
Berlin/Hannover/Lübeck. In der Debatte über das israel-kritische Gedicht von Günter Grass will Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse den Schriftsteller nicht voreilig als SPD-Wahlkämpfer ausschließen. „Ich halte nichts davon, dass die SPD nun gewissermaßen wie der Staat Israel Günter Grass zur Persona non grata erklärt“, sagte der Sozialdemokrat am Dienstag im Deutschlandfunk. Zugleich warnte er davor, Grass zum Antisemiten zu erklären. Das Sekretariat des Literaturnobelpreisträgers teilte unterdessen in Lübeck auf Nachfrage mit, Günter Grass werde sich zurzeit nicht zu dem von Israel gegen ihn verhängten Einreiseverbot äußern.
+++Kommentar: Israels Reaktion ist überzogen+++
+++Israels harter Kurs gegen Grass stößt auf Kritik+++
+++ Grass: "Widerrufen werde ich auf keinen Fall" +++
SPD-Politiker hatten sich zuvor gegen Auftritte von Grass in den kommenden Wahlkämpfen ausgesprochen. Der Literatur-Nobelpreisträger hatte die Sozialdemokraten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder unterstützt. Grass werde nicht als Wahlkampfhelfer der SPD in Schleswig-Holstein auftreten – das sei aber auch schon vor dem Streit über das Gedicht klar gewesen, sagte SPD-Sprecher Amin Hamadmad am Dienstag in Kiel. „Wir hatten Herrn Grass für eine Veranstaltung zur Kulturpolitik angefragt, aber er hatte keine Zeit.“
In dem Gedicht „Was gesagt werden muss“ hatte Grass geschrieben, die Atommacht Israel bedrohe den Weltfrieden und könne das iranische Volk mit einem Erstschlag auslöschen. Israels Innenminister Eli Jischai von der strengreligiösen Schas-Partei verhängte daraufhin ein Einreiseverbot gegen den Autor. Grass will sich zurzeit nicht dazu äußern. Auch zum Verzicht der SPD auf ihn als Wahlkämpfer wollte Grass nicht Stellung nehmen.
+++Die Grass-Debatte spaltet Freunde Israels+++
„Man soll mit ihm in der Sache streiten, seine Urteile kritisieren, aber ihn nicht als Person diskreditieren“, sagte Thierse. Grass' vorzeitigen Ausschluss aus dem SPD-Wahlkampf halte er „nicht für sonderlich sinnvoll“. Zudem sei völlig offen, ob der Schriftsteller überhaupt erneut Wahlkampf für die SPD machen wolle. „Er hat nie alle Positionen der SPD vertreten, sondern war ihr in kritischer Solidarität verbunden.“ Thierse fügte hinzu: „Wenn man Günter Grass wegen dieser einseitigen kritischen Position zum Antisemiten macht, dann ist das fatal.“
Grass hatte bereits Willy Brandt in den 60er Jahren unterstützt. In Hamburg engagierte er sich zuletzt bei der Bürgerschaftswahl für den SPD-Spitzenkandidaten Olaf Scholz. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, sagte am Dienstag auf NDR Info, er erwarte nicht, dass Grass noch einmal als Wahlkampfhelfer der SPD auftrete. Das Gedicht zeige, dass Grass den Kontakt zur Realität verloren habe.
Wegen des Einreiseverbotes gerät die israelische Regierung derweil selbst unter Druck. Deutsche Politiker nannten den Schritt überzogen, auch israelische Medien kritisierten ihn. Die Zeitung „Haaretz“ nannte die Maßnahme „hysterisch“. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Renate Künast, sagte: „Am Ende reden alle über das Einreiseverbot und nicht mehr über den Inhalt von Grass.“ Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Rolf Mützenich, sagte der „Süddeutschen Zeitung“: „Das ist der Auseinandersetzung, die notwendig ist, unangemessen.“ Der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Rainer Stinner, kritisierte in derselben Zeitung den Schritt als „Überreaktion der israelischen Regierung“. Beide Politiker erneuerten zugleich jedoch die scharfe Kritik an Grass.
Jüdische Verbände: Nahost-Konflikt muss Unterrichtsthema werden
Vertreter jüdischer Verbände fordern als Konsequenz aus der Debatte um das israel-kritische Gedicht, den Nahostkonflikt zum Unterrichtsthema zu machen. „Dabei geht es nicht nur um Konflikte zwischen Israelis, Palästinensern oder auch dem Mullah-Regime in Teheran“, sagte das Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, Sarah Ruth Schumann, der „Hannoverschen Allgemeinen“ „Es geht um eine Region im Schnittpunkt dreier Weltreligionen – was dort geschieht, kann daher globale Folgen haben, im Guten wie im Schlechten“, so die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Oldenburg.
Die Meinungsfreiheit gebe dem Literaturnobelpreisträger Grass das Recht, auch „Unsinn zu reden, wie er dies über den israelisch-iranischen Konflikt tut“, sagte der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Niedersachsen, Michael Fürst, der Zeitung. „Umfassendes Wissen über die Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts ist aber erforderlich, damit seine Ansichten in der jungen Generation nicht auf offene Ohren treffen.“ Gerade angesichts des wachsenden Migrantenanteils an Schulen sei es dringend erforderlich, Vorurteilen zu begegnen, die etwa Jugendliche mit arabischen Wurzeln mitbrächten, sagte Fürst. Ein lebendiger und kritischer Umgang mit der israelischen Politik könne dabei auch das Bewusstsein schaffen, dass es in Deutschland keinerlei „Schweigegebote“ gegenüber Israel gebe.
Mit Material von dpa/kna