“Ein wesentliches Problem im Umgang mit Missbrauchsfällen ist ihre Komplexität“, sagt der Psychotherapeut Gerald Mackenthun.
Hamburg. Am Anfang war ein Brief. Ein Brief, den viele insgeheim herbeigesehnt und andere gefürchtet hatten. Ein Brief, der das Schweigen brach und einen Flächenbrand auslöste. Geschrieben hatte ihn Anfang Januar ein gewisser Klaus Mertes, Jesuitenpater und Rektor des Berliner Canisius-Kollegs. Ein Brief, adressiert an über 600 ehemalige Schüler des privaten Berliner Elitegymnasiums, in dem der Ordensbruder "mit tiefer Erschütterung und Scham ... die systematischen und jahrelangen Übergriffe in den 70er- und 80er-Jahren" erstmals öffentlich machte.
Mit diesem Eingeständnis fand ein jahrzehntelanger Verdrängungsprozess ein jähes Ende. Plötzlich meldeten sich Opfer. Zögernd, aber ungeheuer mutig, traten sie eines nach dem anderem hinter den Mauern des Schweigens hervor. Sie waren zornig, traurig und verzweifelt, doch andererseits wirkten sie häufig auch erleichtert. Denn inzwischen wissen sie: Sie sind nicht allein. Und sie könnten dafür sorgen, dass zukünftige Generationen nicht mehr so leiden müssen.
Jetzt vergeht seit drei Monaten kaum ein Tag mehr ohne einen neu aufgedeckten Fall. Ganz gleich, ob es um Sex mit Minderjährigen oder andere Formen von seelischen und körperlichen Misshandlungen geht: Die katholische Kirche kann beinahe schon aufatmen, denn sie ist auf diesem weiten Feld längst nicht mehr allein. Die Mittäter und Mitwisser rekrutieren sich inzwischen aus allen relevanten gesellschaftlichen Schichten und Gruppen; in den kommenden Tagen und Wochen dürfte auch die heile Welt der Sportvereine von Erdbeben erschüttert werden, so wie kürzlich das deutsche "Heimwesen" in den 50er- und 60er-Jahren, als in Einrichtungen wie den Bodelschwinghschen Anstalten bis hin zum Mutterhaus der St. Vincentinerinnen Kinder und Jugendliche drangsaliert, gequält und zu Zwangsarbeitern degradiert wurden.
Jetzt hat auch die private Odenwaldschule solch eine Erschütterung hinter sich und versucht mühsam den Wiederaufbau. Der beginnt wie üblich mit Erklärungsversuchen. Doch soweit es dieses anerkannte Vorzeigeprojekt der Reformpädagogik betrifft, müssen einfach so gut wie alle Beteiligten gewusst haben, dass pädagogische Fürsorge und das angestrebte offene Miteinander über die Grenzen des Erlaubten hinausgingen. Und zwar die Lehrer (Täter), die Schülerinnen und Schüler (Opfer) - aber auch die Eltern, die "Zeugen". Nur hat niemand reagiert, hat sich aufgeregt oder ist - bis die Bombe schließlich durch die "Opferbekenntniswelle" platzte - gar an die Öffentlichkeit gegangen. Der Frankfurter Autor Tilmann Jens (55), Anfang der 70er-Jahre selbst Odenwaldschüler, schrieb: "... wir waren mit 17, 18 Jahren bereit, die Welt zu verändern. Und überzeugt, dass wir dazu berufen seien. Wir liebten und lasen. Und schauten weg."
Lag dies auch daran, dass Odenwaldschüler sich als Elite fühlen durften? Als eine Schicht, die sich als aus "höherwertigen Mitgliedern der Gesellschaft" zusammengesetzt versteht?
"Ein wesentliches Problem im Umgang mit Missbrauchsfällen ist ihre Komplexität", sagt der Magdeburger Psychotherapeut Gerald Mackenthun (60), der einst über "Widerstand und Verdrängung" promovierte und heute als einer der namhaftesten Experten dieses Teilaspekts der Tiefenpsychologie gilt. "Alle Protagonisten agieren in einem größeren Umfeld. Der innere Kern dieses Feldes besteht aus dem Täter und dem Opfer, aber weil Menschen nun einmal verschieden sind, bewerten Menschen Situationen stets auch unterschiedlich. Besonders dann, wenn diese Situationen nicht eindeutig sind." So klinge der Begriff "sexueller Missbrauch" zwar eindeutig, sei es aber nicht. "Sexueller Missbrauch beginnt an irgendeiner diffusen Stelle, die schwer zu definieren ist, und endet schließlich in der Nacktheit mit eindeutigen Handlungen." Fast alle Opfer, die sich bisher offenbart haben, bestätigten, dass Übergriffe meistens harmlos angefangen hätten.
Auch die Täter spielen verschiedene Rollen: Sie haben häufig kinder- und jugendfreundliche Seiten, sind beliebt, gefragt und werden nicht selten angehimmelt. "Aber an einer Stelle", warnt Mackenthun, "sind sie dann natürlich Täter."
Canisius-Kolleg, Odenwaldschule, der Leipziger Thomanerchor, die Regensburger Domspatzen: Man kann davon ausgehen, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Missbrauchsopfern dieser elitären Bildungseinrichtungen sich irgendwann einmal offenbart hat. Leider wurde ihnen nicht geglaubt, und wenn vielleicht doch, dann hielten die Eltern offenbar lieber die Füße still: Schließlich haben Eltern, die in die Karriere ihres Kindes viel Zeit, Energie und nicht zuletzt auch viel Geld investieren, ein berechtigtes Interesse daran, dass ein funktionierendes System nicht plötzlich auseinanderbricht und ihre Träume vom erfolgreichen Karrierekind platzen. "Außerdem ist der Schamfaktor eine äußerst wirksame Bremse, um sich nicht zu offenbaren. Denn wenn man sich eine solche Wahrheit wie den sexuellen Missbrauch eingestehen muss, dann fühlt sich das an wie ein Versagen", erklärt Mackenthun. Darüber hinaus bedeute der Schritt in die Öffentlichkeit immer eine Eskalation, wovor viele Menschen zurückscheuten: "Mit der Anzeige entsteht zum einen die Furcht vor der psychischen Belastung des Opfers, zum anderen das Schuldgefühl, selbst für die Demontage einer stabilen Beziehung verantwortlich zu sein."
Dieses Verdrängungsverhalten erklärt auch die vermutete hohe Dunkelziffer der Fälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch in Familien und Partnerschaften. Tatsächlich sind die Reaktionsmöglichkeiten der zumeist minderjährigen Opfer und der Zeugen weder feinsinnig noch human. Doch die Reaktionen der Täter sind es auch nicht. Zumeist leugnen sie hartnäckig und starten harsche juristische Gegenangriffe. Eine unerträgliche Situation, besonders für die Opfer.
Daher, so der Magdeburger Psychologe, komme es bei der Aufklärung vor allem auf das moralische Werteempfinden des Einzelnen an. Und auf sorgsames Vorgehen. Vor dem Gang zur Polizei sollte daher - bei begründetem oder bestätigtem Verdacht - zunächst eine sogenannte "Familienkonferenz" stehen, in der das Für und Wider einer öffentlichen Bekanntmachung offen diskutiert werden kann - am besten mit professioneller Unterstützung.
Hilfe zu holen und einzufordern, die Verdrängungsmechanismen zu überwinden ist eine zentrale Verhaltensweise des gesunden Erwachsenen. Aber viele Menschen schaffen dies nicht aus Scham darüber, versagt zu haben. Eine beispielhafte Ausnahme ist da der Gefreite des Gebirgsjäger-Bataillons 233 aus dem bayerischen Mittenwald, der nach seiner Dienstzeit die ehemaligen Kameraden beim Wehrbeauftragten Reinhold Robbe verriet: Der Soldat berichtete vom "Hochzugkult", menschenunwürdigen Aufnahme- und Hierarchieritualen, zu denen unter anderem der erzwungene Verzehr von roher Schweineleber mit Rollmöpsen und Frischhefe - dazu literweise Bier bis zum Erbrechen - gehörte. Während der eingeleiteten Untersuchung - die Einheit wird voraussichtlich zum 1. Oktober dieses Jahres aufgelöst und neu formiert werden - kam heraus, dass dieser "Kult" schon seit Jahren verbotenerweise praktiziert wurde. Doch wieder hatten es alle gewusst und wieder weggeschaut. "Doch dem scheinbaren 'Verräter'", sagt Mackenthun, "war es gelungen, innerhalb seiner Altersgruppe ein bestimmtes Werteempfinden zu entwickeln. Er besaß genügend moralisches Gewissen, die Demütigungen zu erkennen und zu bewerten. Dieses Gewissen war stärker als der Stolz, stärker als die Kameradschaft unter Männern und vor allem stärker als die Scham." Sollte man daher konsequenterweise nicht auch Polanski-Filme boykottieren, weil der weltberühmte Regisseur 1977 in Los Angeles wegen Vergewaltigung eines damals 13 Jahre alten Mädchens unter Verwendung betäubender Mittel angeklagt wurde - und kurze Zeit später ins Ausland floh?
Missbrauch hat viele Gesichter. Verdrängen hat drei: nichts sehen, nicht hören, nichts sagen.
Aber ein Hilferuf - oder eben der "Verrat" - kann für den "Verräter" auch nach hinten losgehen. So ist es auch zu erklären, dass eine renommierte und angesehene Fernsehspielchefin wie Doris Heinze vom NDR über Jahre ihre einflussreiche Position missbrauchte, indem sie Drehbuchautoren, Regisseure und Produktionsfirmen mit dem cäsarischen "Daumen-rauf-oder-runter-Prinzip" behandelte oder Stoffe selbst unter falschen Autorennamen zur eigenen Bereicherung als Film ins TV-Programm hievte. Aufgedeckt wurden ihre Gebaren jedoch nicht von einem Insider, sondern von dem "Süddeutsche Zeitung"-Reporter Hans Leyendecker, einem Spezialisten für Korruption und organisierte Kriminalität. Dennoch sind sich die meisten Mitglieder des kleinen und exklusiven Kreises, aus dem die deutsche Filmwirtschaft hervorgeht, einig, dass jeder Autor, der die Vorwürfe gegen Heinze publik gemacht hätte, für den Rest seines Lebens ein Kainsmal auf der Stirn getragen hätte. Hier hat die absichtliche "Verdrängung" - in übertragenem freudschen Sinne - eine gerechtfertigte Schutzfunktion.
Tatsächlich würden erwachsene Menschen, die nicht verdrängen oder niemals gelernt haben zu verdrängen, erhebliche Probleme im Leben bekommen. Verdrängung ist ein "Schutzschild gegen die Not des Lebens" (Freud), denn der menschliche Organismus besitzt nur eine begrenzte Aufnahmekapazität. Dies gilt im Besonderen, wenn Kinder oder Heranwachsende mit der traumatischen Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs konfrontiert werden, der das psychische Verarbeitungssystem völlig überfordert. Es gilt daher als absolut legitim, die unerträglichen Gefühle abzuspalten. Nicht legitim dagegen ist die "pathologische" Verdrängung, mit der man lediglich unangenehme oder peinliche Dinge beiseiteschiebt, die einfach nicht ins eigene Lebenskonzept passen - Verdrängung zum persönlichen Vorteil.
"Alle Beispiele", meint Gerald Mackenthun, "lassen sich mit den psychologischen Methoden verstehen. Verstehen heißt jedoch nicht billigen."
Wenn ein Mensch gut ist, dann schaut er für gewöhnlich hin. Besonders dann, wenn etwas nicht zu stimmen scheint. Denn es ist seine humane Pflicht, etwa vor dem Elend anderer, vor schreienden Ungerechtigkeiten, vor Regelverstößen und Missständen oder Straftaten die Augen nicht zu verschließen. Hinhören und - im besten Fall - auch noch darüber zu reden gehören selbstverständlich auch zu diesen Pflichten. So könnte die Verdrängung der Zivilcourage weichen.