Mit Gegenpositionen zu Schwarz-Gelb im Bund versucht Jürgen Rüttgers, Schwarz-Gelb in Düsseldorf über die Wahl am 9. Mai zu retten.
Hamburg. Sein Publikum ist längst gegangen, der letzte Scheinwerfer erloschen. Seine Referenten, seine Sprecherin, seine Sicherheitsleute, sie stehen verloren um ihn herum. Sie wollen endlich in ihren Feierabend. Schon wieder war es ein langer Tag. Aber so ist Wahlkampf. Jetzt um 20.30 Uhr sind ihre Blicke nur noch leer, die Anspannung ist von ihnen abgefallen. Alle Termine sind vorbei. Von hier im münsterländischen Borken bis nach Düsseldorf liegt noch mindestens eine Stunde Fahrzeit vor ihnen.
Aber ihr Chef Jürgen Rüttgers will noch nicht weg aus Borken. In dem holzvertäfelten Saal der Stadthalle lehnt er an einem Stehtisch. Er wirkt gelöst. Er will den Abend noch ausklingen lassen, ein bisschen nachdenken über den Tag, der nun eigentlich vorbei sein sollte. Rüttgers nippt ab und zu an seinem Wasserglas. Er müsste durstig sein, schwitzen, erschöpft sein, wortkarg und genervt. 90 Minuten hat er geredet. 360 Augenpaare haben ihn dabei beobachtet. Rund 20 Fragen aus dem Publikum hat er beantwortet, mehr oder weniger ausführlich.
Rüttgers schwitzt aber nicht, er will jetzt noch weiterreden. Er sagt: "Ich habe heute Abend deutlich gespürt, dass die Krise für die Menschen noch nicht vorbei ist."
Diesen Satz sagt er sehr, sehr langsam. Es scheint, als zurre er diese Worte in seinem Hirn fest. So als ob er den Gedanken unbedingt speichern muss für seinen weiteren Wahlkampf, der in der heißen Phase angelangt ist. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen wird diesen Gedanken sicher noch öfter im Wahlkampf abrufen. Wenn er das Lebensgefühl der Menschen beschreibt, wenn er ihre Meinung wiedergibt, als wäre es die seine, wenn er die Sorgen der Schwachen zu seiner Agenda erhebt, dann ist Jürgen Rüttgers immer noch am besten. Dann ist er in seinem Element. Nicht von ungefähr nennt man ihn den Arbeiterführer.
Aber Rüttgers weiß, dass er noch besser werden muss. Er muss noch näher an die Menschen heran, und vielleicht muss er ihnen noch mehr aufs Maul schauen. Bis zum 9. Mai hat er noch Zeit. Die Umfragen sehen seine Regierung aus CDU und FDP derzeit noch ohne Mehrheit. Ihn könnte trösten, dass es für Rot-Grün auch knapp wird und dass er nach Ole von Beust in Hamburg und Peter Müller im Saarland der dritte Regierungschef in Deutschland werden könnte, der eine Koalition mit den Grünen eingeht. Schwarz-Grün in NRW wäre dennoch ein Ereignis, das die Bundesregierung erschüttern würde. Wenn Rüttgers in seinem Land mit den Grünen kann, dann könnte es auch Merkel 2013 mit ihnen versuchen. Aber Rüttgers will die Grünen nicht. Er setzt allein auf Schwarz-Gelb, sein Schwarz-Gelb. Mit der Bundesregierung, die in gleicher Konstellation regiert, will er aber in diesen Wochen nicht so viel zu tun haben. Wie kein anderer Regierungschef der CDU droht er Bundeskanzlerin Angela Merkel offen mit seinem Veto für eine Steuerreform, wenn diese seine Kommunen weiter in die Schuldenfalle treibt. Merkel musste ihm zusichern, dass dies nicht geschehen werde. Im Moment quält er die Kanzlerin mit einer Art Erpressungsversuch. Er will sie förmlich zwingen, vor der strategisch so wichtigen Wahl in Nordrhein-Westfalen die Steuerpläne der Bundesregierung auf den Tisch zu legen. Genau das wollte die Kanzlerin vermeiden, aber sie musste reagieren. Nun will sie vor der Wahl konkreter werden. Die Zusage hat er ihr abgerungen.
Die Kanzlerin kennt das Spiel von Rüttgers schon länger. 2006 forderte er, das Arbeitslosengeld I zu verlängern. Merkel gab nach. Ein Jahr später war die Verlängerung beschlossen. Im Januar forderte Rüttgers eine Grundrevision von Hartz IV. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgte, und heute, knapp drei Monate später, werden die Hartz-IV-Sätze bereits neu berechnet. Rüttgers kann behaupten, er habe es als Erster so gewollt. Wie ein Neben-Kanzler kann er sich fühlen. Keinem anderen Ministerpräsidenten gelingt es, der Bundesregierung so leicht die Themen zu diktieren. Er spricht für mehr als 18 Millionen Einwohner, für das bevölkerungsreichste und am dichtesten besiedelte Flächenland der Republik. Stets muss Berlin ihm zuhören. Aber Rüttgers ist nur ein Neben-Kanzler auf Zeit. In sechs Wochen kann seine Karriere genauso gut beendet sein.
In der Düsseldorfer Parteizentrale gibt es angeblich ein Papier von Meinungsforschern, wonach die NRW-CDU "anders, positiver, sozialer" wahrgenommen wird als die Merkel-CDU. Im Wahlkampf solle Rüttgers daher die Unterschiede zwischen Landes- und Bundespartei betonen. Ob es das Papier tatsächlich gibt, ist nicht bestätigt. Aber der Ministerpräsident handelt so, als gäbe es diese Hinweise der Meinungsforscher. Einmal im Monat zwingt er sich dazu, auch wirklich "anders, positiver, sozialer" zu sein. Auch der Auftritt in Borken folgt dem Muster. Rüttgers nimmt sich vor zuzuhören, aber das hält er nicht durch. Er redet sehr viel an dem Abend. Was Rüttgers "Zuhör-Tour" nennt, entwickelt sich vielmehr zu einem Frage-Antwort-Spiel. Am Ende haben die Gäste vor allem ihm zugehört.
Orte, die Bergkamen oder Willich heißen, hat er zuerst aufgesucht, und nun ist eben Borken dran. Noch muss Rüttgers in seinem Wahlkampf nicht dorthin, wo Nordrhein-Westfalen städtisch, industriell, kulturell und wahlentscheidend ist. Noch ist Rüttgers dort, wo Nordrhein-Westfalen ziemlich unbedeutend ist, nahezu weiße Flecken auf der Landkarte, aber politisch ziemlich schwarz.
Jedes Mal, wenn er mit seiner "Zuhör-Tour" Station macht, steht Rüttgers im dunklen Anzug zwischen Zuschauertribünen auf einem cremefarbenen, runden Veloursteppich. Wie er sich auf dem Teppich auch dreht und wendet, immer sieht die Hälfte des Publikums nur seinen Rücken. Genauso will er es. Der Herr Ministerpräsident, wie in einer Manege umringt von Menschen, die sich sogar mit seiner Rückseite zufriedengeben. Das Bild gefällt ihm. Es lässt ihn dynamisch dastehen, unverkrampft und modern. Und das Bild soll natürlich an Barack Obama erinnern, wie er einst in seinen Town Hall Meetings die Vereinigten Staaten eroberte. Aber auf dem Teppich in Borken steht kein Obama, sondern ein Mann, der sagt: "Nordrhein-Westfalen ist die siebzehntgrößte Volkswirtschaft der Welt." Er fährt fort. "Ich will jetzt gar nicht schimpfen", aber dann schimpft er doch: auf Banker, Bonuszahlungen, die Zocker der Wall Street. "Hör ma, wie können die so viel verdienen?" Auch bei anderen Themen, der Familienpolitik, dem Arbeitsmarkt, der Linkspartei, will Rüttgers den Meinungen aus dem Publikum kaum widersprechen: "Da hamse recht", "Das ist okay, was Sie sagen", "Hör ma, das kriegen wir hin". Beim umstrittenen Turbo-Abitur verweist er auf die Sozialdemokraten, deren Idee das ja gewesen sei. "Ja, ich verteidige die SPD", sagt Rüttgers. Der Wahlkämpfer beherrscht auch die Rolle des überparteilichen Landespräsidenten.
Es läuft gut für Rüttgers. Dann wird er auf seine Sponsoring-Affäre angesprochen. "Ich will da gar nicht ausweichen", aber während er die Dinge darlegt, zeigt er auf einen jungen Mann in der dritten Reihe: Es ist Hendrik Wüst, Rüttgers' ehemaliger Generalsekretär. Wüst hatte alle Schuld auf sich genommen für die Briefe der CDU an Sponsoren. So sollten Gespräche mit Rüttgers verkauft werden, um das Parteikonto aufzubessern. Der Ministerpräsident will von alledem nichts gewusst haben. Ein Mann im Borkener Publikum will das nicht glauben: "Sie sind doch der Chef von Herrn Wüst gewesen. Und Sie wollen das nicht gewusst haben?" Rüttgers antwortet: "Er hat das gemacht, und er hat gesagt, dass er dafür die Konsequenzen tragen will." Den Namen Wüst nimmt der Regierungschef nicht in den Mund.
Der Ex-Generalsekretär gehört nicht mehr zu Rüttgers' Entourage. Er muss nach dem "Zuhör"-Auftritt auch nicht mehr warten wie die anderen Mitarbeiter des Chefs. Kein anderer Ministerpräsident in Deutschland mache solche Veranstaltungen, sagt Rüttgers später, während er auf die inzwischen leeren Tribünen zeigt. Auch nicht die Bundeskanzlerin, betont er. So ganz stimmt das nicht: Für das Fernsehen hatte sich Merkel im Bundestagswahlkampf ins Townhall-Format pressen lassen. Es lag ihr nicht. Er aber liebt es. Im Gegensatz zur Kanzlerin hat der Ministerpräsident überhaupt keine Scheu vor Menschen, vor direkter Konfrontation und vor den Unwägbarkeiten eines unvorbereiteten Auftritts. Und mit seiner NRW-FDP kommt Rüttgers derzeit auch besser zurecht als Merkel mit ihrer Westerwelle-FDP. Aber deswegen geht es Rüttgers noch lange nicht besser als Merkel. Beide verbindet eine Schicksalsgemeinschaft. Sie braucht seinen schwarz-gelben Sieg in Düsseldorf, um über eine gesicherte Bundesratsmehrheit ihre Reformprojekte durchzuziehen: allen voran bei Steuern und Gesundheit. Verliert Rüttgers die Wahl, ist das Ende von Schwarz-Gelb in Düsseldorf auch eine Niederlage der Kanzlerin. Sie hängt mit drin, darauf weist Rüttgers immer wieder hin. Er spricht offen von einer "Denkzettel-Wahl für Berlin", auf die er sich einstellen muss. Wenn seine Regierung am Wahltag scheitert, kann er sich wenigstens herausreden: Berlin ist schuld.
Es ist nicht zu sagen, wie viele heimliche Aggressionen die Kanzlerin gegen Rüttgers in dieser Lage hegen mag. Auf ihn verlassen kann sie sich nicht. Zu jeder Zeit ist er fähig, ihr mit einem Thema seiner Wahl in den Rücken zu fallen. Sie kann sich aber nicht gegen ihn stellen. Er muss ja gewinnen.
Jürgen Rüttgers schaut ein letztes Mal auf die Tribünen. Demnächst werden sie im Bürgerhaus eines Ortes namens Bergheim aufgebaut. "Hat Spaß gemacht", sagt er. Er nippt noch einmal an seinem Glas Wasser und lässt es dann stehen. Halb voll.