Hamburg. Die Serie von Missbrauchsskandalen, mit der sich die katholische Kirche seit einigen Wochen konfrontiert sieht, reißt nicht ab. Im Gegenteil: Beinahe täglich kommen neue Fälle ans Licht. Umso mehr erwarten deshalb dieser Tage viele Katholiken von den Würdenträgern ihrer Kirche, dass sie zu den aktuellen Nachrichten Stellung beziehen. Genau dies tat gestern der Hamburger Erzbischof Werner Thissen, als er die Sonntagsmesse im mit knapp 300 Menschen sehr gut besetzten Mariendom leitete.
Thissen rief in seiner Predigt mit klaren und eindringlichen Worten zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle auf und nannte "Aufklärung und Sorge um die Opfer" das Gebot der Stunde. Thissen ergänzte: "Was unter den Teppich gekehrt wird, das fault und stinkt und schadet. Das gab es viel zu lange. Was angeschaut, aufgearbeitet und bereut wird, das kann heilen. Das ist jetzt notwendig." Weiter sagte Thissen mit Bezug auf das Lukas-Evangelium: "Wir müssen bekennen: Das war falsch, was wir getan haben, sündig, egoistisch, verbrecherisch. Es tut mir leid. Schuld eingestehen fällt schwer. Aber es ist notwendig und heilsam. Denn nur Umkehr, Bekenntnis und Buße führen zur Vergebung." Die Einrichtung eines runden Tisches als Konsequenz aus den Missbrauchsskandalen und um eben diese aufzuarbeiten und in Zukunft möglichst zu verhindern, hieß Thissen gut, und zwar unter Beteiligung "aller dafür infrage kommenden Gruppen".
Die Messe - die übrigens das ZDF im Rahmen seiner allsonntäglichen Gottesdienst-Übertragungen live im Fernsehen sendete - stand unter dem Titel "Schuld und Vergebung". Sie passte damit thematisch in die aktuelle Vor-Osterzeit: Denn der gestrige vierte Sonntag in der 40-tägigen Fastenzeit wird auch "Laetare" (Lateinisch für "Freue dich!") genannt und hat einen fröhlicheren, tröstlichen Charakter. Eben diesen fanden viele der Gottesdienstbesucher auch in den Worten von Erzbischof Thissen. Auf Abendblatt-Nachfrage äußerten sich die Gläubigen zufrieden über Thissens aktive Thematisierung der Skandale; gleichzeitig forderten einige der gläubigen Katholiken auch tief greifende Kirchen-Reformen.
So sagte Andrea Schroers (48) aus Hamburg-Bergedorf: "Ich finde, dass es längst an der Zeit ist, den Pflicht-Zölibat zu überdenken und das Priesteramt auch Frauen zu öffnen." Gleichzeitig zeigte sich Schroers "glücklich über die richtige und wichtige Offensive" der Predigt Werner Thissens. Ähnlich sah das auch Van Hahn Tran (48) aus Hamburg-Jenfeld: "Der Erzbischof hat in dieser für uns Katholiken so schwierigen Zeit weise Worte getroffen, die - hoffentlich vor allem den Opfern von Gewalt und Missbrauch - helfen und auf bessere Zeiten hoffen lassen." Die derzeitige Kritik am Vatikan und letztlich am Papst empfindet er als "oft zu harsch und deswegen unangebracht".
Die katholische Laien-Organisation "Wir sind Kirche" forderte von Rom grundsätzliche Konsequenzen: Die "insgesamt sehr problematische Einstellung der katholischen Kirche zur Sexualität" sei ein weltweites und also kein allein in Deutschland auftretendes Problem, sagte "Wir sind Kirche"-Sprecher Christian Weisner im SWR2.
Der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke und der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Alois Glück, stellten am Wochenende die Pflicht zum Zölibat infrage. Hingegen sprach sich der Weihbischof des Bistums Erfurt, Reinhard Hauke, gegen die Abschaffung des Eheverbots für katholische Pfarrer aus. Auch Papst Benedikt XVI. gilt als strenger Verfechter des Zölibats.