Tag der Wahrheit in Berlin: Neun von zehn Krankenkassen werden noch 2010 einen Zusatzbeitrag von acht Euro monatlich einführen.
Hamburg. Für Millionen Krankenversicherte ist heute der Tag der Wahrheit. Bei einer unscheinbaren Gesundheitskonferenz in Berlin werden von einigen Kassen-Chefs klare Bekenntnisse erwartet. Inhalt: Wir erheben einen Zusatzbeitrag von acht Euro monatlich. Bei fünf gesetzlichen Kassen, die mit der Extraprämie starten - darunter vermutlich die Deutsche BKK und die DAK - wird es nicht bleiben.
Vermutlich neun von zehn Kassen werden bis Ende 2010 den Zusatzbeitrag einführen, heißt es in Kassenkreisen. Gut 160 Milliarden Euro pro Jahr geben die Kassen für die Gesundheit aus - da ist es wenig verwunderlich, dass Minister Philipp Rösler nach langem Taktieren über künftige Reformen endlich die Kosten ins Visier nimmt. "Wir werden uns die Ausgabenseite sehr genau anschauen", sagte Rösler dem "Spiegel". "Künftig muss bei jedem Medikament genauestens überprüft werden, ob Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis stehen." Das tut aber bereits ein quasi staatliches Institut. Dessen pharmakritischer Leiter, Peter Sawicki, soll Ende August ersetzt werden.
Kann man an Arzneien sparen?
Schon Röslers Vorgängerin Ulla Schmidt (SPD) kämpfte gegen die Kosten bei den Arzneimitteln. Sie wuchsen von 1998 bis 2008 von etwa 17 auf 27 Milliarden Euro. Für Medikamente gilt ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent. Der ermäßigte von sieben Prozent würde die Pillen radikal verbilligen. Doch anders als bei den Hotels wagt keine Regierung diese "Steuerkürzung", die allen zugute käme. Aufgrund immer neuer Arzneien gegen Krebs und chronische Erkrankungen steigen die Preise - aber auch die Lebenserwartung der Patienten. Und wer würde dort sparen wollen? Allerdings bieten viele neue Pillen kaum größeren Nutzen. Hier muss besser geprüft werden.
Sind die Krankenhäuser zu teuer?
Etwa 20 deutsche Kliniken wurden zuletzt pro Jahr geschlossen. Die durchschnittliche Verweildauer der Patienten geht zurück. "Blutige Entlassungen" und überarbeitete Ärzte wurden zum Sinnbild des Spardrucks in den Krankenhäusern. Nach Ansicht von Ärzten und Betreibern kann man bei dem größten Kostenblock für die Krankenkassen nicht weiter kürzen.
Verdienen die Ärzte zu viel?
Die niedergelassenen Mediziner haben von der letzten Honorarreform erheblich profitiert. Bis zu 20 Prozent mehr waren keine Seltenheit bei manchen Fachärzten in einigen Regionen. Doch gerade die Praxisärzte hatten zuletzt wenig zu lachen. Dass sie bis zu einem Fünftel ihrer Arbeit kostenlos erledigen, bringt sie gegen die Politik und die Bürokratie auf. In Mecklenburg, Niedersachsen und anderswo lassen sich in ländlichen Regionen kaum noch Ärzte nieder. Sie müssen mit Prämien gelockt werden. Die Krankenkassen sollten mit Hausarztverträgen (erst zum Haus-, dann zum Facharzt) die Kosten bändigen. Kein Modell hat bislang funktioniert. Die Deutschen sind Weltmeister bei den Arztbesuchen. Auch das hält die Kosten hoch.
Soll man die Macht der Krankenkassen beschneiden?
Zusammenstreichen, was die Kassen zahlen, Tarife wie bei der Autoversicherung, weniger Geld für die Vorstände, Verwaltungen radikal umbauen - nichts davon hat den Praxistest bestanden. Die Kassenchefs werden marktüblich bezahlt. Kein Versicherter kann durch alle Tarife durchsteigen, niemand will schwer krank bei einem überforderten Mitarbeiter in einem Callcenter anrufen. Doch beim Sparen hilft tatsächlich die Fusionswelle unter den Kassen. Von heute 170 schrumpft ihre Zahl auf demnächst womöglich noch 100.
Hilft bessere Vorbeugung gegen teure Krankheiten?
Bei vielen Präventionsangeboten wie Wellness und Fitness fragt man sich: Müssen die gesetzlichen Kassen das wirklich honorieren? Dadurch werden die Deutschen nicht fitter oder gesundheitsbewusster. Denn weiterhin steigen die Ausgaben für "erworbene Krankheiten": durch ungesundes Essen, Alkohol, Nikotin, mangelnde oder falsche Bewegung. Und der medizinische Fortschritt macht die Deutschen immer älter. Nachteil: Die über 65-Jährigen verursachen die Hälfte aller Krankheitskosten.
Hat die Politik versagt?
Der Gesundheitsfonds hat den Kassen den Wettbewerb über die Beiträge genommen. Gäbe es das alte System mit unterschiedlichen Beiträgen noch, würde es für die Versicherten aber auch teurer. Aber die Kosten der Kassenbürokratie wären nicht so hoch. Bei der Schweinegrippe war zu beobachten, wie die Hysterie und die Furcht vor den Patienten die Politik zu maßlosen Ausgaben getrieben hat. Und: Was nützen alle Sachverständigen, wenn ihre Arbeit in der Bundesregierung kaum Widerhall findet?
Auch Kassen und Ärzte müssen sich an die eigene Nase fassen: Braucht man so viele Verbände, Vereinigungen und Gremien, wenn das Geld der Versicherten knapp ist? In den Kassenärztlichen Vereinigungen sind zu viele Mitarbeiter mit Verhandlungen, Abrechnung und Verwaltung beschäftigt - da wäre mehr Geld für die Ärzte vor Ort besser investiert.