Offenbar wurde der Diktator von Rebellen gezielt erschossen. Menschenrechtler sprechen von Massaker an Gaddafis Anhängern.
Tripolis/Berlin. Der Vorsitzende des libyschen Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, hat eine Untersuchung der Todesumstände von Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi angekündigt. „Alle Libyer brannten darauf, Gaddafi wegen seiner Verbrechen vor Gericht zu sehen“, erklärte Dschalil in Bengasi. Gaddafi war am letzten Donnerstag in Sirte getötet worden. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass ihn Kämpfer des Übergangsrates nach seiner Gefangennahme gezielt erschossen hatten. Der Leichnam Gaddafis befand sich am Montag weiter in einem Lagerhaus in der Stadt Misrata, wohin ihn die Milizionäre gebracht hatten.
Der Übergangsrat hatte am Sonnabend versichert, der Leichnam solle der Familie Gaddafis zur Bestattung übergeben werden. Nach islamischer Tradition müssen Muslime normalerweise binnen 24 Stunden beigesetzt werden.
Derweil hat die Nato das Ziel ihres Militäreinsatzes in Libyen erreicht. Das sagte der Kommandeur des Einsatzes, der kanadische General Charles Bouchard, in seinem Hauptquartier in Neapel. „Aus unserer Sicht wurden die uns gegebenen Ziele erreicht.“ Alle Gebiete Libyens seien heute unter Kontrolle des Nationalen Übergangsrates: „Die Gefahr organisierter Angriffe von Resten des Gaddafi-Regimes ist vorbei“, sagte Bouchard.
Der Nato-Rat hatte am Freitag vorläufig beschlossen, den Einsatz nach sieben Monaten Dauer zum 31. Oktober zu beenden. Eine endgültige Entscheidung falle in den kommenden Tagen, sagte Nato-Sprecherin Oana Lungescu. Sie bekräftigte, die Nato habe keinerlei Absicht, Truppen in der Nachbarschaft Libyens zu stationieren.
Bouchard verteidigte in einer Video-Pressekonferenz mit Journalisten in Brüssel den Angriff von Nato-Kampfflugzeugen auf einen Militärkonvoi bei Sirte, in dem sich auch Ex-Machthaber al-Gaddafi befand. „Wir hatten keine Ahnung, dass Gaddafi in dem Konvoi war“, sagte Bouchard. „Ich war ziemlich überrascht, dass Gaddafi zu diesem späten Zeitpunkt des Konflikts noch in der Gegend von Sirte war.“
Der Konvoi von 175 Fahrzeugen habe Sirte verlassen wollen. „Wir hatten die Befürchtung, dass die Kämpfer aus Sirte sich mit Resten der Kämpfer aus Bani Walid zusammenschließen und dann Zivilisten in einer Stadt als Geiseln nehmen könnten“, berichtete Bouchard. „Wir haben daher beschlossen, den Konvoi aufzubrechen und in kontrollierbare Teile aufzuspalten. Wir haben unsere Waffensysteme zweimal auf den Konvoi gerichtet und dieses Ziel erreicht.“ Auf einigen Pickup-Fahrzeugen hätten sich Raketen und Maschinengewehre befunden: „In unserer Einschätzung war das eine eindeutige potenzielle Bedrohung der Zivilbevölkerung.“
In Sirte sollen Milizionäre des Übergangsrates 53 Gaddafi-Anhänger nach deren Festnahme getötet haben. Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fanden einige Leichen, bei denen die Arme mit Plastikbändern hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Die Organisation forderte deshalb den regierenden Übergangsrat auf, „eine unverzügliche und transparente Untersuchung der offensichtlichen Massenhinrichtung einzuleiten und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen“.
Mitarbeiter von Human Rights Watch waren am Sonntag nahe einem Hotel in Sirte auf die 53 Leichen gestoßen. Die Blutspuren, die Einschüsse im Grasboden und die Verteilung der Geschosshülsen würden darauf hindeuten, dass die meisten Opfer gemeinsam an jener Stelle erschossen worden waren. Zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Massakers hätten Kämpfer des Übergangsrates das Gebiet mit der Fundstelle kontrolliert. Sollte sich die Massenerschießung eindeutig den Anti-Gaddafi-Milizen zuschreiben lassen, dann wäre dies das schwerste Kriegsverbrechen, das diese in ihrem acht Monate langen Kampf gegen das Regime begangen haben. Bislang wurden vor allem Übergriffe gegen Gaddafi-Anhänger wie willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen bekannt. (dpa/dapd/rtr)